Rückkopplung zwischen Aufmerksamkeit und Mobilisierung

In seinem Buch „Zumutungen“ (Kursbuch Edition, 2020) beschreibt Peter Strohschneider eine einfache, selbstverstärkende Rückkopplungsschleife (S. 74): je größer die mediale Aufmerksamkeit für einen Politiker, desto stärker die Mobilisierung seiner Anhänger, woraus wieder mehr mediale Aufmerksamkeit folgt. Strohschneider zitiert auch Philip Manow (2020), der von „Polarisierung […] als Geschäftsmodell“ (S. 100) gesprochen hat, wohl auch, weil dieser Feedback für sich gesehen, zu immer stärkerem Wachstum der beiden Phänomene führt. Dieses Wachstum geht wohl mit stärkerer Extreme und Polarisierung einher. Hier das sehr einfache Kausalitätendiagramm:

Rückkopplung zwischen Aufmerksamkeit und Mobilisierung

Schwierigkeiten beim Einschätzen dynamischer Entwicklungen

Dass dynamische Phänomene schwierig zu verstehen und einzuschätzen sind, hat die psychologische, soziologische und systemdynamische Forschung vielfältig gezeigt. Insbesondere über die Fehlerhaftigkeit mit der wir exponentielle Prozesse interpretieren, wurde auch im Rahmen der Covid-Krise bereits vielfältig diskutiert.

Trotz Beratung ist auch die Politik davor nicht gefeit. In der Talkshow von Markus Lanz am 07.01.2021 hat der Thüringer Ministerpräsident Bodo Ramelow das in bemerkenswerter Offenheit geschildert. Hier ein Transkript einiger seiner Aussagen:

„Ich habe mich von Hoffnungen leiten lassen, die sich jetzt als bitterer Fehler zeigen. […] Die Zahlen, Daten und Fakten hatten wir alle vorliegen. Es ist ein menschlicher Versuch, dass man den leichteren Weg glaubt gehen zu können. […] Wir stehen in einer Situation, die wir uns im Sommer nicht haben vorstellen wollen — können, ja, aber wollen, nein. […] Die wissenschaftliche Beratung hat uns die Entwicklungsgraphen gezeigt. […] Ich werde von der Dynamik überrascht. Weil diese Dynamik war nach den Erfahrungswerten, die wir hatten, nicht für uns abbildbar. […]“

Markus Lanz, Bodo Ramelow, 7.1.2021

Verteilung höherer Heizkosten — das größere System im Blick behalten

Wie sollen höhere Kosten für Verschmutzungsrechte aus Heizungen verteilt werden? Sollen nur die Mieter, nur die Vermieter oder gar beide anteilig die durch die CO2-Bepreisung auf fossile Brennstoffe erhöhten Kosten für Heizung und Warmwasser in Wohnungen übernehmen? Darüber ist ein politischer Streit entbrannt, der durch einen Blick auf das „größere“ System entschärft werden könnte.

Seit 1.1.2021 müssen auch für CO2-Emissionen aus Kraft- und Heizstoffen Verschmutzungszertifikate erworben werden, die momentan mindestens mit einem Preis von 25 Euro pro Tonne CO2 gehandelt werden. Von Vermieterseite wird argumentiert, sie hätten ja keinen Einfluss auf den Verbrauch von Mietern; daher sollten nur diese die erhöhten Kosten übernehmen. Die Mieterseite macht hingegen geltend, dass nur die Vermieter die Heizungsanlage wählten und damit den Verbrauch maßgeblich beeinflussten. Beide Argumentationsweisen rekurrieren (eventuell unbewusst) auf die Prinzipal-Agenten-Theorie.

Als Prinzial agiert hier der Staat/die Gesellschaft, die einen möglichst geringen Verbrauch fossiler Brennstoffe erreichen will. Aus Sicht der Vermieter sind nur die Mieter die Agenten, deren Handeln mit dem Ziel des Prinzipals in Einklang gebracht werden muss: müssen Mieter höhere Heizkosten voll tragen, erhöhe dies ihre Motivation zum Energiesparen. Vermieter sind in dieser Sichtweise nicht Teil des Systems. Umgekehrt die Mietersicht. Hier sind die Vermieter die Agenten, deren Handeln das Ziel des Prinzipals unterstützen soll: müssen diese die höheren Heizkosten übernehmen, steige deren Motivation durch Investitionen in energieeffizientere Heizungsanlagen diese Kosten zu senken. Dabei sind die Mieter nicht Teil des Systems.

Wir haben es also wieder einmal mit einer Problematik zu tun, die auf die Wahl der Systemgrenze zurückgeführt werden kann. Zieht man diese Grenze weiter, in etwa so wie im nachfolgenden Kausalitätendiagramm dargestellt, ergibt sich ein klareres Bild:

Kausalitätendiagramm Verteilung Heizungskosten

Folgt man nur einer Argumentationslinie, würde der jeweils rotgefärbte Link in der Abbildung nicht-existent und die aus der Rückkopplung entstehenden Dynamiken irrelevant. Aus dieser systemischen Sicht wird dann auch klar, dass die Zielerreichung (in dem Fall: Senkung des Verbrauchs) wahrscheinlicher und einfacher wird, wenn beide Wirkungsmechanismen in Gang gesetzt werden — auch wenn sich die Effekte natürlich nicht notwendiger Weise einfach aufaddieren lassen. Der Vorschlag, beide Anspruchsgruppen (Vermieter und Mieter) gleichermaßen zu beteiligen, erscheint aus Perspektive des Systemdenkens, insbesondere bei Berücksichtigung nicht nur eines ausgewählten Teilsystems, also durchaus sinnvoll.

„Folgt der Wissenschaft!“ — ist das eine sinnvolle Aussage?

Das Statement von Dieter Nuhr auf der Seite der Deutschen Forschungsgesellschaft (DFG) — bzw. insbesondere seine temporäre Entfernung — hat eine intensive Diskussion ausgelöst, was Wissenschaft kann. Ich befürworte, dass sein Statement wieder online steht, bin aber der Meinung, dass seine Argumentation nicht richtig ist. Er sagt, der von der Fridays-For-Future-Bewegung gebrauchte Slogan „Folgt der Wissenschaft!“ im Zusammenhang mit der Klimakrise sei nicht sinnvoll, da sich die Wissenschaft bzw. deren Erkenntnisse ja ständig weiterentwickeln, eine Ausrichtung an ihr daher wenig zielführend oder sinnvoll sei.

Seine Argumentation (in dem zugegebenermaßen sehr kurzen Testimonial) greift aus drei Gründen zu kurz:

  1. Warum sollte man nicht eine sich verändernde Basis als Ausgangspunkt für vernünftiges Entscheiden und Handeln heranziehen, wenn diese die beste Grundlage darstellt, die wir haben? Darauf zu warten, dass keine Veränderung der Wissensbasis mehr stattfindet, ist einerseits unrealistisch (da, wie Nuhr ja auch sagt, eine solche ständige Veränderung definitorisch für Wissenschaft ist) und andererseits gefährlich (da dann ggf. Folgen eingetreten sind, die nicht mehr korrigiert werden können).
  2. Obwohl wissenschaftliche Erkenntnis sich verändert, gibt es doch einen sehr starken Konsens, was die Grundzüge der Klimakrise angeht (im Wesentlichen: menschengemacht durch Ausstoß von Treibhausgasen). Weitere Erkenntnisse sind momentan diesbezüglich nur in Detailfragen zu erwarten, bspw. der konkreten Auswirkungen des Klimawandels in einer bestimmten Region. Und obwohl natürlich ganz prinzipiell die Mehrheit hier falsch liegen kann und die ganz wenigen Forscher mit abweichender Ansicht recht haben könnten: was ist wahrscheinlicher? Stellt wiederum der breite Konsens nicht den besten Ausgangspunkt für vernünftiges Entscheiden und Handeln dar? Und ist die Sympathie für „Außenseiter“ in dem Fall nicht einfach nur die Hoffnung darauf, eben nichts am eigenen Lebensstil ändern zu müssen?
  3. „Folgt der Wissenschaft!“ ist natürlich ein Slogan und bei seinem Einsatz auf bspw. Demonstrationen eben gerade keine wissenschaftsphilosophische Abhandlung, folglich notwendigerweise verkürzt. Aber um eine solche Verkürzung (und eben keine theoretisch vollständige Diskussion der entsprechenden Sachverhalte) handelt es sich ja auch beim Statement von Nuhr.

Zusammenfassende Antwort zur Frage im Titel der Seite: ja! Mehr dazu bei Scientists4Future.

Scientists for Future

Untergewichtung der Lieferkette im Gesundheitsministerium(?)

Nach einer Meldung in Spiegel.Online vom 09. August 2020 klagen mehrere Lieferanten von Schutzmasken gegen das Bundes-Gesundheitsministerium, da dieses Zahlungsverpflichtungen nicht oder nur zögerlich nachkomme. Im letzten Abschnitt des Artikels wird gemutmaßt, warum dies so sei: da zwischenzeitlich viel zu viele Masken bestellt worden seien und dieser Fehler auf die Lieferanten abgewälzt werden solle (siehe auch eine frühere Meldung).

Falls dies so ist, ist das ein gutes Beispiel für ein Phänomen, das man Untergewichtung der Lieferkette nennt (englisch: underweighting of supply chain). Basierend auf dem Beer Distribution Game wurde eine solches Entscheidungsverhalten bei der Bestellung von (fiktiven) Bierkästen von Sterman bereits 1989 beschrieben: die Entscheider berücksichtigen bei ihrer aktuellen Bestellung nicht, was sie bereits in Perioden zuvor bestellt haben, was aber — aufgrund von Lieferverzögerungen — noch nicht eingetroffen ist; aber irgendwann treffen alle Bestellungen dann doch ein… das hat natürlich zur Folge, dass die Lagerbestände in die Höhe schießen (und das Bestellverhalten häufig ins Gegenteil schlägt, nämlich das zu lange nichts oder zu wenig bestellt wird). Die Untergewichtung der Lieferkette ist eine Ursache für den sogenannten Bullwhip- oder Peitscheneffekt in Supply Chains.

Wie bei der Studie von Sterman fragt man sich aber auch jetzt, was wiederum Treiber für diese Untergewichtung sind. Einerseits handelt es sich tatsächlich um eine kognitive Fehlentscheidung, die allerdings so offensichtlich ist, dass sie wohl nur unter bestimmten Voraussetzungen eintritt. Mit anderen Worten, die Spieler des Beer Distribution Game als auch die Besteller im Ministerium sind ja nicht einfach zu doof: sie wissen eigentlich schon, dass sie in der Vergangenheit bereits Bestellungen getätigt haben und ein Stift mit einem Blatt Papier reicht aus, um über die genauen Mengen Buch zu führen.

Es müssen also wohl noch kontextuelle und organisationale Rahmenbedingungen erfüllt sein, damit die Untergewichtung der Lieferkette stattfindet und dann in einen Bullwhip-Effekt mündet:

  • Zeitdruck beim Entscheiden
  • keine Abstimmung zwischen Abteilungen
  • politischer Druck, irgendetwas tun zu müssen
  • kein konsolidiertes Informationssystem
  • Risikoaversion: wer wird schon dafür kritisiert, energisch gehandelt zu haben

Interpretation von Prozentangaben

Die vielbeachtete Studie von Streeck et al. (2020) ergibt eine Sterblichkeitsrate von 0,38% für COVID-19 auf Grundlage der Daten aus Heinsberg. Dieser niedrig erscheinende Wert wird nun vielerorts so interpretiert, dass die Einschränkungen des öffentlichen Lebens hinfällig, da übertrieben seien. Natürlich kann über die Notwendigkeit einzelner Maßnahmen diskutiert werden (auch wenn mir diese im Großen und Ganzen aufgrund des allgemeinen Vorsichtsprinzip grundsätzlich als sehr sinnvoll erscheinen). Die Interpretation der Sterblichkeitsrate verlangt aber m.E. dringend eine vorsichtigere Herangehensweise:

  1. Die Sterblichkeitsrate von 0,38% erscheint gering; in absoluten Zahlen ergäben sich aber beispielsweise mehr als 300.000 Tote für Deutschland. Insbesondere wenn diese in kurzer Zeit sterben würden, ist das eine durchaus merkliche Zahl von Opfern.
  2. Die ursprünglichen Annahmen bzgl. der Sterblichkeitsrate lagen — basierend auf den Daten aus China und Italien — bei 2-3% . Dass diese nun geringer auszufallen scheint, kann im Nachhinein den Entscheidern nicht als Fehler vorgeworfen werden; das wäre unlogisch und/oder unethisch.
  3. Die eben genannten Sterblichkeitsraten in China und Italien basierten teilweise auf einem Zusammenbruch der intensivmedizinischen Versorgung, die durch die Maßnahmen in Deutschland ja verhindert werden sollte und bis heute auch verhindert wurde; die relativ geringe Todesrate ist also wohl ein Erfolg der Maßnahmen und der medizinischen Betreuung, siehe Präventions-Paradox.
  4. Die Berechnung des Werts 0,38% basiert auf einer relativ kleinen Zahl Gestorbener (nämlich 7). Nur drei Tote mehr oder weniger (bei falschen oder fehlenden Daten) ändert diesen schon relativ stark auf 0,51% bzw. 0,20%.

Vier Zitate

Ohne weitere Erläuterung…

„Die Dinosaurier überlebten 250 Millionen Jahre; wie stellen Sie sich ein Wirtschaftswachstum über 250 Millionen Jahre vor? (Stichworte genügen)“
— Max Frisch: Fragebogen (2019, Erstveröffentlichung 1987), Suhrkamp, S. 110

„Auch liebten wir, Gebilde zu erzeugen, die wir Modelle nannten — wir schrieben in leichten Metren drei, vier Sätze auf Zettelchen. In ihnen galt es, einen Splitter vom Mosaik der Welt zu erfassen, so wie man Steine in Metalle fasst. […] Auf diese Weise beschrieben wir die Dinge und die Verwandlungen, vom Sandkorn bis zur Marmorklippe und von der flüchtigen Sekunde bis zur Jahreszeit.“
— Ernst Jünger: Auf den Marmorklippen (2018, Erstveröffentlichung 1939), Ullstein, S. 24

„Die Menschheit kann nur kosmopolitisch überleben. Je ausgelaugter der Planet wird, desto stärker werden die Kräfte der Abgrenzung und Ausgrenzung den exterminatorischen Kampf um die verbliebenen Ressourcen anheizen. Alle zentralen Probleme können nur weltgemeinschaftlich gelöst werden. Der Nationalist des 21. Jahrhunderts ist ein Apokalyptiker.“
— Ilija Trojanov: Nach der Flucht (2017), S. Fischer, S. 110

„Wir leben in einer Gesellschaft, in der Wissen gelehrt und Unwissen praktiziert wird, ja, in der Tag für Tag gelernt wird, wie man systematisch ignorieren kann, was man weiß.“
— Harald Welzer: Alles könnte anders sein (2019), S. Fischer, S. 24

Die Lösung der Koronakrise verlangt systemische Einsicht

Elizabeth Sawin schreibt in einem Kommentar auf USNews, dass COVID-19, Ungleichheit und Klimakrise zusammen betrachtet werden müssen (Why We Can’t Ignore the Link Between COVID-19, Climate Change and Inequity). Ursache und Wirkung der Corona-Krise sind in vielfältigen Rückkopplungsbeziehungen miteinander verwoben, beispielsweise:

Der Wunsch, als Reaktion auf die ökonomischen Folgen von Corona Umweltstandards zu senken oder auszusetzen, ist daher nicht nur von politischen Überlegungen getrieben, sondern führt langfristig auch nicht zu einem erfolgreichen Ergebnis. „Multisolving“ ist gefragt:

Obwohl es natürlich menschlich verständlich und für manche Weltanschauungen auch politisch opportun ist, die COVID-19-Pandemie als einen isolierten Sachverhalt zu betrachten, auf den man sich jetzt alleinig fokussieren sollte, handelt es sich doch um ein komplexes Problem. Solche Probleme haben keine isolierten Lösungen, sondern verlangen eine systemische Analyse und Lösungsansätze, die an verschiedenen Punkten ansetzen.

Scheinkorrelation als rhetorisches Mittel

In einem Mirror-Artikel vom 17.03.2020 wird Jonathan Van-Tam, der stellvertretende Chief Medical Officer von England, zitiert: „I don’t want to go into enormous detail into every single risk group but we are saying it is the people who are offered flu vaccines, other than children, who fit into that risk category, people for whom the advice is very strong about social distancing.“

Als rhetorisches Mittel verwendet er hier eine Scheinkorrelation, um sein Argument zu vereinfachen. Graphisch dargestellt:

Van-Tam argumentiert also mit 3., die bekannten Kausalitäten sind aber 1. und 2.: die bekannten Risikofaktoren führen sowohl dazu, dass man wahrscheinlich eine Grippeimpfung bekommen hat als auch dass die Gefährdung durch COVID-19 höher ist. Statistisch führt das dann tatsächlich zum Auftreten einer Korrelation zwischen Grippeimpfung und Gefährdung (weswegen der Begriff „Scheinkorrelation“ auch missverständlich ist), obwohl kein ursächlicher Zusammenhang besteht.

Das ist natürlich zur Vereinfachung legitim (und er hat es sicher auch richtig verstanden), führte aber prompt zu absichtlichen oder unabsichtlichen Fehlinterpretationen, die eine kausale Verbindung von Grippeimpfung als Ursache der Gefährdung durch COVID-19 impliziert. So lässt schon die Überschrift des Mirror einigen Interpretationsspielraum zu: „Coronavirus: Top medic warns anyone who gets the flu jab should stay at home“. Auf Facebook wird es dann zeitweise richtig falsch: „In England reihen Regierung und höchste Stellen des Gesundheitswesens all jene über 65-Jährigen, die die normale Grippe-Impfung erhalten haben, in die Gruppe der Höchstgefährdeten ein…“ (siehe auch hier).

Welche Konsequenzen ergeben sich aus einer systemischen Sicht auf die Corona-Pandemie?

In einem Blogbeitrag kritisiert Werner Boysen, dass beim Umgang mit der COVID19-Krise eine systemische Sicht häufig fehlt. Während ich seine Grundannahmen teile (und hier kurz noch auf zwei zusätzliche Punkte eingehen will), ergeben sich trotzdem für mich andere Konsequenzen als er andeutet. Doch zunächst zur Zustimmung: Boysen hat sicher recht, wenn er sagt, dass die Corona-Pandemie längst nicht mehr nur ein medizinisches Problem darstellt und folgerichtig auch Lösungen nicht nur im Bereich der Medizin gefunden werden müssen und können; mit anderen Worten, eine systemische Sicht ist notwendig.

Mehr noch, eine rein auf das Medizinische fokussierte Sicht ist m.E. simplifizierend und scheinheilig. Einerseits simplifizierend, da — insbesondere wenn man dynamische Aspekte berücksichtigt — beispielsweise ein völliges Einbrechen der Wirtschaft langfristig auch zu Problemen in der angemessenen medizinischen Versorgung der Bevölkerung führen würde (siehe auch das Interview mit Gerd Antes auf Spiegel Online).

Andererseits ist das scheinheilig, weil eine Abwägung zwischen medizinischem Optimum und anderen Werten natürlich immer schon gemacht wurde (siehe auch diesen Artikel von Wolfgang Mayerhöfer aus der FAZ), sich nur in hoch-entwickelten Gesellschaften mehr und mehr Richtung Gesundheit/Sicherheit verschiebt. Dass die Gesundheit über allem steht, ist aber auch bei uns gar nicht so selbstverständlich, wie es nun dargestellt wird, ansonsten gäbe es ein Tempolimit auf Autobahnen, wären die Kohlekraftwerke abgeschaltet und würden keinerlei Waffen exportiert. Es werden also durchaus medizinische Risiken eingegangen, um andere Ziele zu erreichen — die Auswirkungen liegen oft nur nicht zeitliche und räumlich so nahe, wie jetzt bei der Pandemie.

Trotz dieses Befundes stimme ich nicht mit der implizierten Konsequenz im Boysens Blog überein, die momentanen (02.04.2020) Restriktionen für Gesellschaft und Wirtschaft schnell aufzuheben. Mit diesen Einschränkungen erkaufen wir uns Zeit: 1. um die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Krankeit und ihrer Ausbreitung besser zu erforschen (siehe auch hierzu das oben erwähnte Interview); 2. um Impfstoffe und/oder Medikamente gegen sie zu entwickeln; und 3. um die eben angesprochenen Trade-offs zwischen medizinischem Optimum und anderen gesellschaftlichen Zielen politisch aufzulösen bzw. neu zu priorisieren. Täte man das nicht, besteht die Gefahr von Tausenden von Toten, einer — im Gegensatz bspw. zu einem vorübergehenden Wirtschaftseinbruch — nicht mehr reversiblen Konsequenz. Diese Risikoabwägung im Sinne des General Precautionary Principle (Norman, Bar-Yam und Taleb; siehe auch hier) erscheint mir durchaus geboten. Auch wenn evtl. im Nachhinein die Maßnahmen als übertrieben dargestellt werden (siehe Kassandra-Paradox). Darüber nachzudenken, wie der gegenwärtige Zustand überwunden und was daraus für andere Krisen gelernt werden kann, ist aber gleichermaßen notwendig.