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Reine Technologielösung nicht ausreichend

Der technische Fortschritt alleine wird die Klimakrise nicht lösen, wie Versuche mit dem Klimasimulations-Tool En-ROADS zeigen. Darüber hinaus steht natürlich auch nicht fest, ob die angenommenen (positiv wirkenden) technologischen Entwicklungen überhaupt eintreten. Nur in Kombination mit regulatorischen und verhaltensbasierten Änderungen lässt sich das Zwei-Grad-Ziel des Paris-Abkommens voraussichtlich erreichen.

En-ROADS ist ein auf einem System-Dynamics-Modell basierendes Simulationsprogramm, welches in jedem Internet-Browser läuft. Es ist anhand der wesentlich detaillierteren Klimamodelle kalibriert und nähert deren Ergebnisse gut an. Mit En-ROADS lassen sich Auswirkungen verschiedener Maßnahmen und Entwicklungen auf die globale Durchschnittstemperatur ausprobieren. Im vorliegenden Fall (Link zum Szenario) habe ich getestet, wie sich starke positive Fortschritte im Bereich Technologie auf die Zielerreichung auswirken, nämlich zum Ende des Jahrhunderts die durchschnittliche globale Erwärmung auf unter 2 Grad Celsius zu begrenzen, wie es das Pariser Abkommen vorsieht.

Szenario nur Technologiefortschritt

Konkret wurden im hier getesteten Szenario nur solche Maßnahmen gegenüber den Standardwerten verändert, die überwiegend technischen Fortschritt widerspiegeln und keine (oder nur geringe) Änderungen regulatorischer, z.B. Steuern/Subventionen, oder verhaltensbasierter Art, z.B. Fleischkonsum, mit sich bringen. Um die Wirksamkeit dieser Maßnahmen eher zu überschätzen, wurden sie dabei alle mit maximalem positivem Effekt berücksichtigt. Aber auch in diesem Fall steigt die globale Durchschnittstemperatur um 2,4 Grad Celsius an. Diese Steigerung ist aber natürlich trotzdem geringer, als wenn keine solcher Maßnahmen wirksam würden, wobei sich in der Simulation dann eine Temperatursteigerung um 3,3 Grad Celsius ergibt.

Durch die stark gestiegene Energie-Effizienz im Transport, bei Gebäuden und in der Industrie nimmt die Nachfrage nach Energie insgesamt ab, was sich positiv auf die zu erwartende Temperatursteigerung auswirkt. Ebenso vermindert ein starker Einsatz von technischer Kohlendioxid-Entnahme aus der Atmosphäre die zu erwartende Erhöhung der Temperatur um 0,3 Grad Celsius. Wie man an der Verteilung der primären Energieerzeugung nach unterschiedlichen Quellen sieht, sind aber insbesondere der vermehrte Einsatz von Kernenergie und die, sehr hypothetische, Nutzung einer weiteren Null-Emissions-Energiequelle (z.B. Kernfusion) weniger wirksam. Dies liegt an den einerseits langen Aufbauzeiten entsprechender Kapazitäten und andererseits an den Kostenvorteilen der bisherigen fossilen, aber auch erneuerbarer Energiequellen.

Bei Kostenvergleichen: Dynamik berücksichtigen!

In einer bspw. auf LinkedIn weit verbreiteten Anzeige kommuniziert die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM), dass es 13 mal sinnvoller (weil kostengünstiger) sei, Co2-Zertifikate zu kaufen, anstelle das Geld in Wärmepumpen für die Gebäudeheizung zu stecken. Das hört sich natürlich im ersten Moment sehr überzeugend an (ich gehe davon aus, dass die angegebenen Daten stimmen und habe sie nicht überprüft). Die Aussage wurde aber bereits aus verschiedener Sicht kritisiert, z.B. weil dadurch die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern (und insbesondere deren Lieferanten) nicht verringert wird. Hier will ich mich daher darauf beschränken, dass diese plumpe (weil statische) Gegenüberstellung keinerlei dynamische Perspektive einnimmt. Insbesondere werden nicht berücksichtigt:

  1. Änderung der Kosten (und damit des Verhältnisses der Kosten) über die Zeit: einerseits wird der Preis für CO2-Zertifikate steigen (genau so ist das Instrument ja gedacht und regulatorisch ausgestaltet), andererseits wird der Preis für Wärmepumpen durch Erfahrungskurveneffekte sehr wahrscheinlich mit ihrer Verbreitung fallen, wie es beispielsweise bei Photovoltaik festzustellen ist.
  2. Laufende und zusätzliche Kosten: dynamische Investitionsrechnungen in der Betriebswirtschaftslehre berücksichtigen generell Zahlungsströme über die Zeit, d.h. inklusive laufender Kosten bspw. für den Strom der Wärmepumpen. Zunächst sieht es dann so aus, als ob das Verhältnis noch stärker zugunsten des Zertifikatskaufes spräche. Allerdings bemerkt man schnell, dass ein dann auftretender Kostenfaktor überhaupt nicht erwähnt wird: auch für die konventionellen Heizung fallen natürlich Brennstoffkosten an. Dass diese in Zukunft ansteigen können und werden, ist fast schon eine Trivialität.
  3. Marktdynamiken auf dem Zertifikatemarkt: CO2-Zertifikate führen nur dann zu einer tatsächlichen Verminderung der Kohlendioxid-Emissionen, wenn die Verschmutzungsrechte eben nicht genutzt werden. Man müsste also einen Weiterverkauf verbieten, um tatsächliche Umwelteffekte zu erzielen.
  4. Langfristige Konsequenzen bei immer weniger Zertifikaten („Endgame“): was passiert, wenn die Anzahl CO2-Zertifikate immer geringer wird und dadurch keine weiteren Umwelteffekte mehr zu erzielen sind? Dann kommt es weiterhin zu den negativen Auswirkungen der konventionellen Heizungen, weil diese ja nicht getauscht wurden (von den dann evtl. auftretenden hohen Kosten für die Besitzer ganz zu schweigen, siehe 2.).

Mittels Simulation ließen sich natürlich konkretere, quantitative Szenarien dieser Effekte durchspielen. Behält man jedoch grundsätzlich die dynamischen Auswirkungen im Blick, zeigt sich auch so schon die (bewusst oder unbewusst) irreleitende Aussage der Anzeige.

Paradoxe Trägheit beim Entscheiden

In ihrer Spiegel-Kolumne stellt Samira El Ouassil die Frage, ob die späte Reaktion der Politik auf das absehbare und vorhergesagte Ansteigen der Covid-Infektionszahlen im Herbst 2021 auf Unehrlichkeit oder Inkompetenz beruht. Sie zitiert Politiker, die „von der Dynamik überrascht waren“, obwohl die Simulationen der Epidemiologen ziemlich korrekt das tatsächliche Verhalten abgebildet haben (manche leugneten gar die Existenz dieser wissenschaftlichen Vorhersagen). Sie endet mit ihrer Fassungslosigkeit angesichts des Unvorbereitet-Seins des Staates gegenüber einer gut verstandenen Entwicklung.

Der Grund für diese nicht stattgefundene Vorbereitung auf die pandemische Entwicklung in der kälteren Jahreszeit liegt m.E. aber zwischen den Extremen Lüge und Dummheit. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen in der Tat, dass Menschen Probleme damit haben, dynamisch komplexe Systeme zu verstehen und zu steuern. So wurde u.a. gezeigt, dass

  • Rückkopplungen
  • Natur und Dauer von Verzögerungen
  • nicht-lineares, insbesondere exponentielles Verhalten
  • das Zusammenspiel von Bestands- und Flussgrößen

dazu führen, dass Entscheider in die Irre geleitet werden. Der Vorwurf der Inkompetenz ist daher naheliegend, allerdings kann man kaum davon ausgehen, dass politische Entscheider hier besonders schlecht performen. Im Gegenteil, es handelt sich wohl eher um eine relativ gut ausgebildete, erfahrene Gruppe von Personen, die darüber hinaus prinzipiell aus der Vergangenheit zu lernen im Stande ist.

War es daher Unehrlichkeit, d.h. ein bewusstes Ignorieren der Fakten und Handeln wider besseres Wissen? Wohl eher auch das nicht. Stattdessen schlage ich vor, hier von „paradoxer Trägheit“ zu sprechen, die es den Entscheidern erlaubt, Wissen zu ignorieren, ohne bewusst die Unwahrheit zu sagen. Diese Trägheit führt dann in Verbindung mit gesellschaftlichen Rahmenbedingungen (Bsp: die anstehende Bundestagswahl) dazu, dass eigentliche klare Aussagen der Wissenschaft ignoriert und Entscheidungen einfach nicht getroffen werden.

Die angesprochene Trägheit ist „paradox“, da

  • der Sachverhalt in den Grundzügen eigentlich klar ist (dynamische Parameter der Pandemie, Kapazität des Gesundheitssystems);
  • auch die grundsätzlichen Handlungsalternativen bekannt sind (z.B. Lockdowns, Impfungen, Testungen);
  • Nicht-Handeln eindeutig keine gute Option ist (wie die Szenarien gezeigt haben);
  • trotzdem der Eindruck emsiger Aktivität verbreitet wird, diese aber eher „Nebenkriegsschauplätze“ betrifft (Bsp.: Impfstatus eines einzelnen Fußballers).

In der Hoffnung, dass trotz Warnungen der Wissenschaft schon alles gut gehen würde (weil es momentan ja noch OK ist = Stand im Sommer 2021), lässt sich die dynamische Komplexität der Situation so nutzen, um einfach nichts (bzw. nichts zielführendes) zu tun. M.E. betrifft die paradoxe Trägheit aber nicht nur Politiker: der sich nur langsam wandelnde Umgang der Gesellschaft mit der Klimakrise lässt sich leider auch durch dieses Phänomen erklären (siehe auch Parmenidis Fallacy).

Lehren aus den Wahlprogrammen zur Bundestagswahl 2021

Das DIW Econ hat die Wahlprogramme der großen Parteien für die Bundestagswahl 2021 daraufhin untersucht, inwiefern diese die Erreichung der Klimaziele ermöglichen (im Wesentlichen im Paris Agreement festgelegt). Die Aussagen in den Programmen zum Klimaschutz wurden dabei acht Kategorien (fünf Wirtschaftsbereiche und drei übergreifende Sachgebiete) zugeordnet und dann deren Wirksamkeit zur Erreichung der Ziele eingeschätzt. Ich habe bisher wenig methodische Kritik an dem Vorgehen gefunden, obwohl die Umsetzung verbaler Aussagen in Punktwerte natürlich nicht völlig unproblematisch ist. Aus den Ergebnissen der Studie (siehe Abbildung als Zusammenfassung) lassen sich einige Erkenntnisse und sich aufdrängende Fragen ableiten.

Wahlprogramme bzgl. Klimaziele
Inwieweit erreichen die Wahlprogramme der Parteien die Klimaziele des Paris-Vertrags?
  1. Entgegen oft kolportierter Stammtischmeinung sind nicht alle Parteien gleich. Wenn einer Person bei der Wahl Klimaschutz wichtig ist, kann er/sie die Parteien danach priorisieren.
  2. Selbst die Partei mit dem größten absehbaren Zielerreichungsgrad (Bündnis 90/Die Grünen) verfasst ein Programm, das nicht mit den selbst-gesteckten Zielen in Einklang steht. Insofern besteht die Wahl dann doch nur darin, die beste aus allen sub-optimalen Lösungen zu wählen.
  3. Die Problematik, dass weitreichende Ziele formuliert werden, deren Erreichungspfad aber unkonkret bleibt, ist ein bekanntes Phänomen der Strategieliteratur. Rumelt (2011, 36) schreibt: “Bad strategy is long on goals and short on policy or action.” Das Setzen von Zielen ist also nur ein Teil einer Strategie; der zweite, ebenso notwendige Teil ist die Angabe möglichst konkreter Aktivitäten, wie die Ziele erreicht werden können (sonst bleiben die Ziele im besten Fall eine Vision).
  4. Werden Ziele gesetzt, die mit den vereinbarten Aktivitäten offensichtlich nicht erreicht werden können, besteht die Gefahr der „Eroding Goals“ (ein Systemarchetyp nach Senge, 1990): die Ziele werden dann einfach eben weniger herausfordernd formuliert und schon sind wir der Zielerreichung näher, ohne uns tatsächlich mehr anstrengen zu müssen.
  5. Was sagt es über uns als Gesellschaft aus, dass keine der Parteien vollständig wirksame Maßnahmen formulieren? Ist die Kluft zwischen Intention („wir sollten mehr für den Klimaschutz tun“) und Handeln („wir tun tatsächlich mehr für den Klimaschutz“) immer noch so ausgeprägt, dass sich mit angemessenen Vorschlägen keine Wahlen gewinnen lassen (Intentions-Verhaltens-Lücke)? Oder unterschätzen die Parteien hier den Realismus der Bevölkerung, die durchaus mit gut begründeten Maßnahmen zum Klimaschutz umgehen könnte?
  6. Liegt der Fokus bei allen Diskussionen zum Klimaschutz immer noch nur auf den vermeintlichen negativen Folgen, den damit verbundenen Kosten? Dann besteht weiterhin die Aufforderung, die Risiken von nicht ausreichenden Maßnahmen (höhere Kosten der Folgen der Klimakrise gegenüber Prävention, insbesondere die überproportionale Steigerung der Kosten, je später mit Maßnahmen begonnen wird) und den Mehrwert von Klimaschutz („multi-solving“: z.B. weniger Krankheit/Tote durch geringere Luftverschmutzung, weniger Platzverbrauch in Städten durch evtl. weniger Autos, geringere Abhängigkeit von zweifelhaften Regimen) in der öffentlichen Diskussion klarer herauszustellen.

Nach Leugnung nun Verzögerung

Die Existenz des menschengemachten Klimawandels lässt sich aufgrund valider theoretischer Modelle und umfassender empirischer Daten kaum noch leugnen. Anstelle seiner Leugnung tritt daher mehr und mehr die Taktik der Verzögerung von notwendigen Maßnahmen, was eine Minimierung des eigenen Aufwands und ein Abwälzen auf andere beinhaltet.

In ihrem Artikel „Discourses of Climate Delay“ (Lamb WF et al., 2020: Discourses of climate delay. Global Sustainability 3, e17, 1–5) teilen Lamb und Kollegen die Narrative der Klimawandelverzögerung in vier Klassen ein:

  1. Verschieben der Verantwortlichkeit: es sind, je nachdem, die Kunden, die Chinesen, die Großkonzerne, die Amerikaner, die Boomer, oder wer auch immer, der Schuld ist am Klimawandel, und die sollen sich gefälligst auch darum kümmern…
  2. Konzentration auf Lösungen ohne fundamentale Veränderungen: Freiwilligkeit ist Trumpf — Regeln sind böse; Kernfusion wird uns retten…
  3. Fokus auf Nachteile von Klimaschutz-Maßnahmen: Maßnahmen gingen notwendiger Weise immer auf Kosten sozial Schwacher oder noch nicht weit entwickelter Länder…
  4. Verneinen von Einflussmöglichkeiten: Menschen verändern sich nicht, daher kann es keine Lösung geben; es ist eh‘ zu spät…

Nachfolgende Abbildung (S. 2) aus ihrem Aufsatz fasst die Diskussion gut und mit den Original-Begriffen im Englischen zusammen.

Klimawandelverzögerung

„Folgt der Wissenschaft!“ — ist das eine sinnvolle Aussage?

Das Statement von Dieter Nuhr auf der Seite der Deutschen Forschungsgesellschaft (DFG) — bzw. insbesondere seine temporäre Entfernung — hat eine intensive Diskussion ausgelöst, was Wissenschaft kann. Ich befürworte, dass sein Statement wieder online steht, bin aber der Meinung, dass seine Argumentation nicht richtig ist. Er sagt, der von der Fridays-For-Future-Bewegung gebrauchte Slogan „Folgt der Wissenschaft!“ im Zusammenhang mit der Klimakrise sei nicht sinnvoll, da sich die Wissenschaft bzw. deren Erkenntnisse ja ständig weiterentwickeln, eine Ausrichtung an ihr daher wenig zielführend oder sinnvoll sei.

Seine Argumentation (in dem zugegebenermaßen sehr kurzen Testimonial) greift aus drei Gründen zu kurz:

  1. Warum sollte man nicht eine sich verändernde Basis als Ausgangspunkt für vernünftiges Entscheiden und Handeln heranziehen, wenn diese die beste Grundlage darstellt, die wir haben? Darauf zu warten, dass keine Veränderung der Wissensbasis mehr stattfindet, ist einerseits unrealistisch (da, wie Nuhr ja auch sagt, eine solche ständige Veränderung definitorisch für Wissenschaft ist) und andererseits gefährlich (da dann ggf. Folgen eingetreten sind, die nicht mehr korrigiert werden können).
  2. Obwohl wissenschaftliche Erkenntnis sich verändert, gibt es doch einen sehr starken Konsens, was die Grundzüge der Klimakrise angeht (im Wesentlichen: menschengemacht durch Ausstoß von Treibhausgasen). Weitere Erkenntnisse sind momentan diesbezüglich nur in Detailfragen zu erwarten, bspw. der konkreten Auswirkungen des Klimawandels in einer bestimmten Region. Und obwohl natürlich ganz prinzipiell die Mehrheit hier falsch liegen kann und die ganz wenigen Forscher mit abweichender Ansicht recht haben könnten: was ist wahrscheinlicher? Stellt wiederum der breite Konsens nicht den besten Ausgangspunkt für vernünftiges Entscheiden und Handeln dar? Und ist die Sympathie für „Außenseiter“ in dem Fall nicht einfach nur die Hoffnung darauf, eben nichts am eigenen Lebensstil ändern zu müssen?
  3. „Folgt der Wissenschaft!“ ist natürlich ein Slogan und bei seinem Einsatz auf bspw. Demonstrationen eben gerade keine wissenschaftsphilosophische Abhandlung, folglich notwendigerweise verkürzt. Aber um eine solche Verkürzung (und eben keine theoretisch vollständige Diskussion der entsprechenden Sachverhalte) handelt es sich ja auch beim Statement von Nuhr.

Zusammenfassende Antwort zur Frage im Titel der Seite: ja! Mehr dazu bei Scientists4Future.

Scientists for Future

Die Lösung der Koronakrise verlangt systemische Einsicht

Elizabeth Sawin schreibt in einem Kommentar auf USNews, dass COVID-19, Ungleichheit und Klimakrise zusammen betrachtet werden müssen (Why We Can’t Ignore the Link Between COVID-19, Climate Change and Inequity). Ursache und Wirkung der Corona-Krise sind in vielfältigen Rückkopplungsbeziehungen miteinander verwoben, beispielsweise:

Der Wunsch, als Reaktion auf die ökonomischen Folgen von Corona Umweltstandards zu senken oder auszusetzen, ist daher nicht nur von politischen Überlegungen getrieben, sondern führt langfristig auch nicht zu einem erfolgreichen Ergebnis. „Multisolving“ ist gefragt:

Obwohl es natürlich menschlich verständlich und für manche Weltanschauungen auch politisch opportun ist, die COVID-19-Pandemie als einen isolierten Sachverhalt zu betrachten, auf den man sich jetzt alleinig fokussieren sollte, handelt es sich doch um ein komplexes Problem. Solche Probleme haben keine isolierten Lösungen, sondern verlangen eine systemische Analyse und Lösungsansätze, die an verschiedenen Punkten ansetzen.

Krisenvergleich (aus dynamischer Perspektive)

Kann man die Corona-Pandemie (CP) und die Klimakrise (KK) vergleichen? In vielerlei Hinsicht wohl nicht, in dynamischer Perspektive aber schon (siehe auch diesen Artikel in Resilience). Bei beiden handelt es sich um globale Herausforderungen, die aber unterschiedliche Zeitkoeffizienten aufweisen (“COVID-19 is climate on warp speed”, Gernot Wagner zitiert auf Yale Environment 360). Für beide gibt es technische, verhaltensbasierte und systemische „Lösungen“, wobei das nicht ein völliges Ausbleiben von negativen Folgen meint (dafür ist es bei beiden zu spät), sondern ein wie auch immer tatsächliches oder empfundenes Im-Griff-haben.

  • Voraussichtliche Dauer: 2 Jahre (CP; nach dieser Zeit ist sehr wahrscheinlich ein Impfstoff gefunden bzw. Herdenimmunität erreicht) — 100 Jahre (KK; die globale Erwärmung ist schon im Gange und selbst bei sofortigen sehr starken Maßnahmen aufgrund langer Verzögerungen nicht aufzuhalten)
  • Bekannt seit: Dez. 2019 (CP; erste Berichte in Presse zu einer neuen Lungenkrankheit in China) — 1992 (KK; Klimarahmenkonvention der UN in Rio, aber eigentlich natürlich schon viel länger, insbesondere die physikalischen Grundlagen)
  • Schätzung Anzahl stark Betroffener: mehrere Tausende/Zehntausende/Hunderttausende (CP; je nach Effektivität der durchgeführten Maßnahmen) — Millionen bis Milliarden (KK; je nach Effektivität der durchgeführten Maßnahmen )
  • Insbesondere betroffene Bevölkerung: Ältere und Menschen mit einschlägigen Vorerkrankungen (CP) — Ärmere Nationen bzw. ärmere Bevölkerungsgruppen in reichen Nationen (KK)
  • Technische Lösungen: Schutzmasken, Impfstoff, Medikamente (CP; ggf. Nebenwirkungen) — Energieeffizienz, CO2-freie Energieerzeugung, Kohlenstofflagerung, Geoengineering (KK; insbesondere bei Letzterem mit unbekannten Nebenwirkungen)
  • Verhaltensbasierte Lösungen: Physische Distanzierung, Händewaschen, kein Händeschütteln, Vermeiden von Menschenansammlungen, Quarantäne (CP) — Konsumverzicht bzw. -veränderung, weniger Fernreisen, weniger Fleischverzehr, bewusste Energieeinsparung (KK)
  • Systemische Lösungen: Infrastruktur zur Kommunikation trotz physischer Distanz, Kapazitäten im Gesundheitswesen aufbauen insbesondere Beatmungsplätze, Heimarbeit ermöglichen (CP) — Umbau des Wirtschaftssystems, mehr Kooperation, mehr Regionalität, nachhaltiges Wirtschaften fördern, weniger Erwerbsarbeit (KK)

Schwellenwerte und Klimakrise

Yuval Noah Harari beschreibt in seinem Bestseller 21 Lessons for the 21st Century (2018, S. 117) die „klassische“ Befürchtung, die mit der Klimakrise einhergeht: eine zunächst geringfügige Erwärmung der durchschnittlichen Temperatur durch menschengemachte Treibhausgase führt dazu, dass eine selbstverstärkende Rückkopplung in Gang kommt, die letztlich zu einer sehr starken Erhöhung der Durchschnittstemperatur führt–mit völlig unbekannten Folgen für das Leben auf der Erde. Ausgelöst könnten diese Teufelskreise werden, indem die Polarkappen abschmelzen oder Methan aus den auftauenden Permafrostböden entweicht.

Nachtrag: Harald Lesch greift ab etwa Minute 29 das Thema in seiner Rede auch auf (und ist natürlich auch darüber hinaus sehenswert) und schildert noch einen zusätzlichen Sachverhalt…

Klimaanlagen und Erderwärmung

Zusammenfassung eines Videos heute (5.9.2018) auf der Facebook-Seite des Economist (ein zugehöriger Artikel findet sich unter diesem Link):

The more the Earth warms, the more people will need cooling. But the more air-conditioners there are, the warmer the world will become„.

Es handelt sich natürlich um eine einfache, selbstverstärkende Rückkopplung:

Fügt man dazwischenliegende Variablen (Mediatoren) in das Kausalitätendiagramm ein, so wird der Sachverhalt noch etwas klarer. Unter anderem wird dann auch deutlich, dass es sich eigentlich um zwei, teilweise zusammenlaufende Rückkopplungsschleifen handelt. Zwar sind beide selbstverstärkend, aber doch mit unterschiedlichem Zeithorizont und unterschiedlicher geographischer Relevanz: der Pfad über den Klimawandel ist langfristig und global wirksam, der Pfad über die Abwäre kurzfristig und lokal von Auswirkung.

Das systemische Denken bietet zwei grundsätzliche „Lösungsmöglichkeiten“ an:

  1. Durchschneiden der Loops: für den langfristig wirkenden rechten Ast des Diagramms etwa dadurch, dass die Energieerzeugung für Klimaanlagen auf nachhaltige Quellen (ohne CO2-Emission) umgestellt wird.
  2. Grenzen des Wachstums-Mechanismus: kein selbstverstärkender Loop wächst ewig weiter; Grenzen könnten beispielsweise durch die verfügbare Gesamtenergiemenge oder durch Ressourcenbeschränkungen der benötigen Materialien auftreten. Leider auch dadurch, dass die durch den Klimawandel ausgelösten Probleme so gewaltig werden, dass die Menschheit nicht mehr in der Lage ist, Klimaanlagen zu bauen.