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Levermanns Idee der „Faltung der Welt“

In seinem Buch „Die Faltung der Welt“ (Ullstein, 2023) untersucht Anders Levermann das Konzept der Faltung als mathematisches Prinzip, um den Herausforderungen zu begegnen, die sich aus der Endlichkeit unseres Planeten und der Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Entwicklung ergeben. Der Klimaforscher schlägt eine Lösung vor, die die Begrenztheit der Erde mit der Notwendigkeit eines raschen gesellschaftlichen Fortschritts in Einklang bringt. Levermann plädiert dafür, durch die metaphorische Anwendung des mathematischen Konzepts der Faltung, das eine unendliche Entwicklung in einer endlichen Welt ermöglicht, ein Wachstum in Vielfalt anstelle einer reinen Expansion zu erreichen. Er betont die praktische Anwendung dieses Prinzips, beispielsweise im europäischen Emissionshandelssystem und bei der Unternehmensbesteuerung, um die Komplexität der Nachhaltigkeit und des gesellschaftlichen Fortschritts effektiv zu steuern. Levermanns Arbeit ist ein Aufruf zu einem ganzheitlicheren und vernetzteren Ansatz, um globale Herausforderungen wie Klimawandel und Ungleichheit anzugehen. Er fordert die Leser auf, traditionelle Wachstumsparadigmen zu überdenken und innovative, auf der Systemtheorie basierende Lösungen anzunehmen. Nebenbei stellt der noch einige Grundlagen dynamischer Systeme vor, die die mathematische Grundlage von System Dynamics darstellt (u.a. findet sich eine gelungene Diskussion von exponentiellem vs. logistischem Wachstum).

Sein Vorschlag der Faltung beruht darauf, einerseits sehr konkrete und auch tiefschürfende Grenzen für das menschlichen Handeln zu ziehen, um beispielsweise die natürlichen Ressourcen des Planeten nicht vollständig auszubeuten. Andererseits erlaubt der Ansatz innerhalb dieser Grenzen vielfältiges Handeln in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht, postuliert also eine mögliche Balance zwischen Grenzsetzung und Freiheit. Die wenigen, aus seiner Sicht zu ziehenden Grenzen sind (ausführlich im Buch erläutert und mit dem Hinweis versehen, dass diese natürlich nicht „über Nacht“ eingeführt werden können):

  1. Ende der Verbrennung fossiler Energieträger
  2. Ende des Rohstoffabbaus
  3. Begrenzung der Unternehmensgröße
  4. Begrenzung des Erbes
  5. Begrenzung von Einkommensunterschieden

Die konkreten Ausgestaltungen und zeitlichen Pfade sollen in demokratischen Prozessen festgelegt, dann aber unverrückbar sein.

So sympathisch das grundlegende Konzept ist (siehe auch der Link zu den „Grenzen des Wachstums„), so gut durchdacht die fünf Grenzen sein mögen, hier zeigt sich auch der größte Kritikpunkt an seinem Konzept aus systemischer Sicht, gut repräsentiert durch den „Eroding Goals“-Systemarchetyp von Senge (1990; siehe Abbildung). Dieser Archetyp besagt, dass Systeme bei Nicht-Zielerreichung neben vermehrter Anstrengung eben auch einfach die Ziele ändern können — schon befindet man sich wieder auf dem richtigen Weg. Levermann ist sich dieser Gefahr wohl bewusst, wenn er auf die notwendige Dauerhaftigkeit der einmal festgelegten Ziele hinweist. Trotzdem bleibt unklar, wie das zu erreichen ist und wann eine Zieländerung doch erlaubt sein soll. Falls eine solche Änderung nämlich überhaupt nicht möglich wäre, verkämen die Ziele zu Dogmen, deren Erreichung unkritisch und unabänderlich erfolgen muss. Wie also diese Balance gefunden werden könnte: die Ziele einerseits nicht zu leichtfertig aufzugeben, weil ihre Erreichung schwierig ist und sie andererseits nicht stupide als unverhandelbar darzustellen, bleibt der große offene Punkt an seinem Konzept.

Interpretationshilfen für eine 50 Jahre alte Studie

Anschließend an meinen letzten Beitrag zur Rezeption der Limits-to-Growth-Studie (1972) in einem populären Podcast, hier nochmals eine Zusammenstellung der aus meiner Sicht wichtigsten Interpretationshilfen. Wenn man es genau betrachtet, sind diese auch nicht eigentlich nur auf die Limits-to-Growth-Studie beschränkt, sondern sind in dieser oder ähnlicher Form bei vielen Studien mit Modellierungs- und Simulationshintergrund hilfreich. Es geht mir daher im Folgenden gar nicht in erster Linie um eine inhaltliche Detail-Diskussion der Annahmen und Ergebnisse der Studie, sondern um deren besseres Verständnis aus methodologischer Sicht.

Hier meine Top-8 der wichtigsten Interpretationshilfen:

  1. Insgesamt werden 12 Szenarien behandelt und nicht alle sind katastrophal: das tolle an der Szenarioanalyse ist ja gerade, dass man Bedingungen für unterschiedliche Ergebnisse identifizieren kann — es endet also nicht immer katastrophal und die Simulationen geben Hinweise darauf, wie „gute“ Zukünfte zu erreichen sind.
  2. Zeithorizont der Szenarien ist 2100; eklatante Folgen zeigen sich oft erst ab 2030: es handelt sich um sehr langfristige Szenarien, in denen oft die wichtigsten Folgen heute (2022) noch gar nicht eingetreten sind und die daher auf dieser Basis auch nicht als „falsch“ eingestuft werden können.
  3. Die Dynamik in den Simulationen entsteht endogen; es sind keine Entwicklungen vorgegebenen: in den Simulationsmodellen stecken natürlich Annahmen über Zusammenhänge zwischen Variablen, aber nicht das Resultat wenn sich diese Variablen über längere Zeiträume fortentwickeln.
  4. Einfache, fast schon triviale Struktur der grundsätzlichen Dynamik: die Grundstruktur entspricht dem Systemarchetypen Limits-to-Growth, der letztlich nur aus zwei Rückkopplungsschleifen besteht (die Realität ist natürlich viel komplexer, aber zum Grundverständnis reicht der Archetyp).
  5. Präzision vs. Akkuratheit: einerseits ist ein präziseres Modell (= mit höherer Auflösungsschärfe) nicht notwendiger Weise akkurater (d.h. reflektiert die Realität besser); andererseits zwingen präzise Angaben im Modell aber zur kritischen Reflexion bzgl. des vorhandenen Wissens.
  6. Mikro- vs. Makromodellierung: langfristige Makromodelle („Weltmodelle“) sind oft robuster als kurzfristige Mikromodelle, weswegen eine langfristige globale Klimaprognose genauer sein kann als eine mehrtägige Wetterprognose einer bestimmten Region.
  7. Quantitative Szenarien waren das Ziel der Limits-to-Growth-Studie, nicht die genaue Vorhersage zu erwartender Entwicklung: das ist ja die Quintessenz der Szenariotechnik — aufgrund von Unsicherheit sind Prognosen immer falsch und trotzdem können wir, richtig verstanden, etwas von ihnen lernen.
  8. Kassandra-Paradox: Verhaltensänderung führen zu Abweichung des beobachteten vom simulierten Systemverhalten in den Szenarien; also gerade dadurch, dass wir die Katastrophe verhindern, bewirken wir, dass die entsprechenden Szenarien „falsch“ werden.

Diese Punkte habe ich auch in ähnlicher Form auf der Jahrestagung der Vereinigung für Ökologische Ökonomie am 21.10.2022 in Stuttgart zur Diskussion gestellt.

Größler beim VÖÖ-Vortrag

Lehren aus den Wahlprogrammen zur Bundestagswahl 2021

Das DIW Econ hat die Wahlprogramme der großen Parteien für die Bundestagswahl 2021 daraufhin untersucht, inwiefern diese die Erreichung der Klimaziele ermöglichen (im Wesentlichen im Paris Agreement festgelegt). Die Aussagen in den Programmen zum Klimaschutz wurden dabei acht Kategorien (fünf Wirtschaftsbereiche und drei übergreifende Sachgebiete) zugeordnet und dann deren Wirksamkeit zur Erreichung der Ziele eingeschätzt. Ich habe bisher wenig methodische Kritik an dem Vorgehen gefunden, obwohl die Umsetzung verbaler Aussagen in Punktwerte natürlich nicht völlig unproblematisch ist. Aus den Ergebnissen der Studie (siehe Abbildung als Zusammenfassung) lassen sich einige Erkenntnisse und sich aufdrängende Fragen ableiten.

Wahlprogramme bzgl. Klimaziele
Inwieweit erreichen die Wahlprogramme der Parteien die Klimaziele des Paris-Vertrags?
  1. Entgegen oft kolportierter Stammtischmeinung sind nicht alle Parteien gleich. Wenn einer Person bei der Wahl Klimaschutz wichtig ist, kann er/sie die Parteien danach priorisieren.
  2. Selbst die Partei mit dem größten absehbaren Zielerreichungsgrad (Bündnis 90/Die Grünen) verfasst ein Programm, das nicht mit den selbst-gesteckten Zielen in Einklang steht. Insofern besteht die Wahl dann doch nur darin, die beste aus allen sub-optimalen Lösungen zu wählen.
  3. Die Problematik, dass weitreichende Ziele formuliert werden, deren Erreichungspfad aber unkonkret bleibt, ist ein bekanntes Phänomen der Strategieliteratur. Rumelt (2011, 36) schreibt: “Bad strategy is long on goals and short on policy or action.” Das Setzen von Zielen ist also nur ein Teil einer Strategie; der zweite, ebenso notwendige Teil ist die Angabe möglichst konkreter Aktivitäten, wie die Ziele erreicht werden können (sonst bleiben die Ziele im besten Fall eine Vision).
  4. Werden Ziele gesetzt, die mit den vereinbarten Aktivitäten offensichtlich nicht erreicht werden können, besteht die Gefahr der „Eroding Goals“ (ein Systemarchetyp nach Senge, 1990): die Ziele werden dann einfach eben weniger herausfordernd formuliert und schon sind wir der Zielerreichung näher, ohne uns tatsächlich mehr anstrengen zu müssen.
  5. Was sagt es über uns als Gesellschaft aus, dass keine der Parteien vollständig wirksame Maßnahmen formulieren? Ist die Kluft zwischen Intention („wir sollten mehr für den Klimaschutz tun“) und Handeln („wir tun tatsächlich mehr für den Klimaschutz“) immer noch so ausgeprägt, dass sich mit angemessenen Vorschlägen keine Wahlen gewinnen lassen (Intentions-Verhaltens-Lücke)? Oder unterschätzen die Parteien hier den Realismus der Bevölkerung, die durchaus mit gut begründeten Maßnahmen zum Klimaschutz umgehen könnte?
  6. Liegt der Fokus bei allen Diskussionen zum Klimaschutz immer noch nur auf den vermeintlichen negativen Folgen, den damit verbundenen Kosten? Dann besteht weiterhin die Aufforderung, die Risiken von nicht ausreichenden Maßnahmen (höhere Kosten der Folgen der Klimakrise gegenüber Prävention, insbesondere die überproportionale Steigerung der Kosten, je später mit Maßnahmen begonnen wird) und den Mehrwert von Klimaschutz („multi-solving“: z.B. weniger Krankheit/Tote durch geringere Luftverschmutzung, weniger Platzverbrauch in Städten durch evtl. weniger Autos, geringere Abhängigkeit von zweifelhaften Regimen) in der öffentlichen Diskussion klarer herauszustellen.

Immer mehr Schiffe, immer weniger Fang…

Forscher haben jetzt empirisch untersucht, wie es um den internationalen Fischfang steht (Rousseau, Watson, Blanchard, and Fulton: Evolution of global marine fishing fleets and the response of fished resources, veröffentlicht in PNAS 2019). Das Ergebnis liest sich wie eine Zusammenfassung des Effekts, der sich beim Fishbanks Game immer wieder einstellt: „Alongside an expansion of the fleets, the effective catch per unit of effort (CPUE) has consistently decreased since 1950, showing the increasing pressure of fisheries on ocean resources.“

Ganz allgemein wird dieser Effekt als die Tragik der Allmende (oder Englisch: Tragedy of the Commons) bezeichnet. Jeder Akteur hat für sich gesehen rationale Anreize das Allgemeingut (hier: die Fische) möglichst gründlich auszubeuten. Was langfristig aber zu einem Zusammenbruch der Resource führt, womit dann auch alle schlechter dastehen.

Senge (The Fifth Discipline, 1990) nennt die Tragik der Allmende einen „notorischen“ Systemarchetypen, der immer wieder dynamischen zu Problemen führt. Als Lösungsmöglichkeit führt er gemeinsam beschlossenen und transparenten Zugriff auf die Ressource an; dieser Zugriff muss allerdings deren Endlichkeit und Regerenationsmöglichkeit berücksichtigen und Fehlverhalten muss sanktioniert werden. Hier seine Abbildung (S. 387f.):


Die Rüstungsspirale

Eine satirisch gemeinte Nachricht beim Postillon (24.4.2017) mit ernstem Hintergrund:

Hört sich witzig an, passiert aber genau so beim Wettrüsten und wird durch den Systemarchetypen „Escalation“ nach Peter Senge für zwei Agenten A und B gut beschrieben:

Verschlechtert sich die relative Position (Menge an Waffen, politische oder wirtschaftliche Macht etc.) von Land A gegenüber Land B, wird Land A aktiv (investiert, intrigiert o.ä.), was seine „Performanz“ erhöht und damit auch die relative Position gegenüber Land B. Dieses reagiert nun auf die Verschiebung durch eigene Aktivitäten, die auch zu höherer Performanz führen und dadurch die relative Position gegenüber A wieder stärken, wodurch sich A wieder genötigt sieht usw. usf.

Obwohl es sich um zwei balancierende Rückkopplungsschleifen handelt, schaukeln sich die Aktivitäten gegenseitig immer weiter auf (was balanciert wird, ist der relative Abstand zwischen den zwei Parteien). Als Lösungsmöglichkeiten schlägt Senge sehr abstrakt das Suchen nach „win-win“-Situationen vor oder das Durchschneiden der Schleifen durch „aggressive“ Friedensbemühungen.

Tragik der Gutachter-Allmende

Die Herausgeber der Fachzeitschrift Ecology Letters (Michael E. Hochberg, Jonathan M. Chase, Nicholas J. Gotelli, Alan Hastings und Shahid Naeem) beschreiben 2009 (12. Jahrgang, S. 2-4) die Situation bei der Begutachtung von Fachartikeln als typisches Problem der Form „Tragik der Allmende“ (engl.: tragedy of the commons).

Das gegenwärtige Anreizsystem in der Wissenschaft führe dazu, dass immer mehr Zeit zum Publizieren von Artikeln aufgewendet würde (inkl. forschen, schreiben, revidieren, neu einreichen etc.) gegenüber der Erstellung von Gutachten für von Kollegen eingereichte Artikel. Gleichzeitig bewirke dies aber auch, dass die insgesamt im System vorhandene Kapazität zur Erstellung von Gutachten abnimmt, wodurch die Verzögerung von Gutachten zu und ihre Qualität abnimmt. Wissenschaftler müssten also individuell noch mehr Zeit zum Publizieren aufbringen, um den Anforderungen zu genügen. Dies beeinträchtigt sowohl ihre Möglichkeit zur Erstellung von Gutachten als auch wiederum die Gesamtkapazität des Systems.

Das folgende Kausalitätendiagramm fasst aus meiner Sicht diese Gedanken in einer „Limits-to-Growth“-Struktur zusammen. Stellt man sich mehrere individuelle Forscher im Diagramm abgebildet vor, konkurieren diese um eine gemeinsame Ressource, die Reviewer Allmende, und es ergibt sich der klassische „Tragedy-of-the-Commons“-Systemarchetyp nach Senge (1990; The Fifth Discipline):