Archiv für den Monat: März 2020

Krisenvergleich (aus dynamischer Perspektive)

Kann man die Corona-Pandemie (CP) und die Klimakrise (KK) vergleichen? In vielerlei Hinsicht wohl nicht, in dynamischer Perspektive aber schon (siehe auch diesen Artikel in Resilience). Bei beiden handelt es sich um globale Herausforderungen, die aber unterschiedliche Zeitkoeffizienten aufweisen (“COVID-19 is climate on warp speed”, Gernot Wagner zitiert auf Yale Environment 360). Für beide gibt es technische, verhaltensbasierte und systemische „Lösungen“, wobei das nicht ein völliges Ausbleiben von negativen Folgen meint (dafür ist es bei beiden zu spät), sondern ein wie auch immer tatsächliches oder empfundenes Im-Griff-haben.

  • Voraussichtliche Dauer: 2 Jahre (CP; nach dieser Zeit ist sehr wahrscheinlich ein Impfstoff gefunden bzw. Herdenimmunität erreicht) — 100 Jahre (KK; die globale Erwärmung ist schon im Gange und selbst bei sofortigen sehr starken Maßnahmen aufgrund langer Verzögerungen nicht aufzuhalten)
  • Bekannt seit: Dez. 2019 (CP; erste Berichte in Presse zu einer neuen Lungenkrankheit in China) — 1992 (KK; Klimarahmenkonvention der UN in Rio, aber eigentlich natürlich schon viel länger, insbesondere die physikalischen Grundlagen)
  • Schätzung Anzahl stark Betroffener: mehrere Tausende/Zehntausende/Hunderttausende (CP; je nach Effektivität der durchgeführten Maßnahmen) — Millionen bis Milliarden (KK; je nach Effektivität der durchgeführten Maßnahmen )
  • Insbesondere betroffene Bevölkerung: Ältere und Menschen mit einschlägigen Vorerkrankungen (CP) — Ärmere Nationen bzw. ärmere Bevölkerungsgruppen in reichen Nationen (KK)
  • Technische Lösungen: Schutzmasken, Impfstoff, Medikamente (CP; ggf. Nebenwirkungen) — Energieeffizienz, CO2-freie Energieerzeugung, Kohlenstofflagerung, Geoengineering (KK; insbesondere bei Letzterem mit unbekannten Nebenwirkungen)
  • Verhaltensbasierte Lösungen: Physische Distanzierung, Händewaschen, kein Händeschütteln, Vermeiden von Menschenansammlungen, Quarantäne (CP) — Konsumverzicht bzw. -veränderung, weniger Fernreisen, weniger Fleischverzehr, bewusste Energieeinsparung (KK)
  • Systemische Lösungen: Infrastruktur zur Kommunikation trotz physischer Distanz, Kapazitäten im Gesundheitswesen aufbauen insbesondere Beatmungsplätze, Heimarbeit ermöglichen (CP) — Umbau des Wirtschaftssystems, mehr Kooperation, mehr Regionalität, nachhaltiges Wirtschaften fördern, weniger Erwerbsarbeit (KK)

Das Kassandra-Paradox

Das Kassandra-Paradox oder Kassandra-Dilemma (auch als Prävention-Paradox bezeichnet; siehe auch hier) beschreibt den Sachverhalt, dass gelungene Interventionen im Nachhinein scheinbar die Unrichtigkeit der ursprünglichen Prognose bestätigen. Donella Meadows hat das schon 1999 schön beschrieben:

“To Cassandra the god Apollo gave the ability to foresee the future, and then, after she displeased him, the terrible curse that no one would ever believe her. That story shows the ancient Greeks’ sophistication about the perverse logic of prognostication. If people had believed her, then Cassandra wouldn’t have been able to foretell the future, because action would have been taken to avoid foreseen disasters. […] A predictable world has no room for choice; a choosable world is not predictable.”

Kassandra (Mitte) zieht mit der rechten Hand Lose und sagt in Gegenwart des Priamos den Untergang Trojas voraus. (Fresko aus Pompeji, Archäologisches Nationalmuseum Neapel)

Beispiele aus den 1980er-Jahren stellen das damalige Waldsterben bzw. den Verlust der Ozonschicht der Atmosphäre dar. Diese Probleme wurden durch Einsatz von Rauchgasentschwefelung bzw. dem Verbot von FCKW-Gasen insbesondere in Kühlanlagen deutlich vermindert mit der Folge, dass die urprüngliche Problematik teilweise als übertrieben oder als falsch wahrgenommen wurde. Der gleiche Effekt ist auch bei der gegenwärtigen COVID-19-Krise zu erwarten (und scheint auch bei früheren Epidemien eingetreten zu sein). Ein Artikel im betriebswirtschaftlichen Kontext ist Repenning/Sterman: Nobody Ever Gets Credit for Fixing Problems that Never Happened, California Management Review, 2001.

Konzeptionelles COVID-19-Simulationsmodell für den Kreis Bergstraße

Ich habe Tom Fiddamans systemdynamisches COVID-19-Modell, das er für Bozeman (Montana) kalibriert hat, an die Verhältnisse im Kreis Bergstraße (meinem Wohnort) angepasst — disaggregiertere System-Dynamics-Modelle haben beispielsweise Jeroen Struben, Kim Warren oder iSee-Systems entwickelt (und hier das Video des Outputs eines agenten-basierten Modells einer Infektion und noch ein Artikel der Washington Post mit einer eingebetteten Agentensimulation). Die wesentlichen Annahmen des Modells erklärt Tom im Video auf obiger Webseite; geändert habe ich nur die Anzahl Bewohner, Intensivbetten, Auftreten der ersten Infektion, und die Basisreproduktionszahl (R0), die wohl etwas kleiner als im Originalmodell angegeben liegen dürfte. Hier ein Screenshot des System-Dynamics-Modells (grundsätzliche Informationen zu COVID-19 hier und hier; eine einfach Diskussion unterschiedlicher Infektionen in einem früheren Beitrag):

Achtung: das Modell dient nicht zur genauen Vorhersage möglicher Fallzahlen; aber es erlaubt, die grundsätzlichen Auswirkungen einzelner Variablen oder Policies zu testen, da das Systemverhalten (hier bspw. Verlauf der Infektion) von der Systemstruktur (hier: Infektionsmodell) abhängt. Ein Modell zur genaueren Vorhersage und politischen Entscheidungsunterstützung sollte wesentlich disaggregierter sein und einige der zusätzlichen Annahmen auflösen — so könnte z.B. die Auswirkung ganz konkreter Verhaltensänderungen erfasst und abgetestet werden; oder in gefährdete (ältere, vorerkrankte) und ungefährdete Infizierte unterschieden werden. Hier also die Simulationsergebnisse für nur prototypische Szenarien (nochmals: keine Panik und mit Vorsicht genießen, aber daraus lernen):

Das Szenario „NoMeasures“ ist ein kontrafaktisches Worst-Case-Szenario, da es davon ausgeht, dass keinerlei Interventionen vorgenommen werden, also insbesondere keine Quarantäne für Infizierte und keine Verhaltensänderung (Hygienemaßnahmen, Vermeidung von sozialen Kontakten) in der Bevölkerung und auch die Infektionscharakteristika sehr unvorteilhaft sind. Die Todeszahlen zeigen, dass die Auswirkungen katastrophal wären.

Das Szenario „Lucky“ ist evtl. etwas falsch benannt; hier wurde Saisonalität der Epidemie unterstellt, was zu einem Rückgang der Infektionen im Sommer führen würde–bis dahin kommt es aber auch zu sehr vielen Toten. Das Szenario „NotReallyLucky“ nimmt eine noch stärkere Saisonalität an: zwar werden dann in diesem Jahr noch weniger Menschen infiziert und sterben; allerdings tritt dann im nächsten Jahr wieder eine Infektionswelle auf, der wiederum vielen Menschen zum Opfer fallen würden.

In den Szenarien „WeakIntervention“ und „StrongIntervention“ wird davon ausgegangen, dass die Hälfte der Infizierten rechtzeitig in Quarantäne kommt. Die Unterschiede ergeben sich hier allein durch die Verhaltensanpassung in der Bevölkerung: sind diese nur halbherzig, kommt es lediglich zu einem zeitlichen Verschieben der Infektionswelle auf später; nur wenn die Verhaltensänderungen stark genug ausfallen, kann die Infektion nicht um sich greifen (der blaue Graph ist aufgrund der Skalierung in den Abbildungen kaum zu sehen und bis zum Ende des Betrachtungszeitraums im Wesentlichen parallel zur x-Achse). Am Ende des Simulationszeitraums von einem Jahr kommt es aber auch dann zu einem Ansteigen der Infizierten bzw. der Todeszahlen — allerdings ist zu hoffen, dass bis dahin ein Impfstoff vorhanden ist.

Im Weiteren interessant wären natürlich auch Kombinationen verschiedener Szenarien. Eine Botschaft wird allerdings klar: es müssen deutliche Verhaltensanpassungen stattfinden, um nicht in eine Gesundheitskatastrophe zu geraten. Denn auch falls die Zahlen in dieser Simulation um das Hundertfache überschätzt wären, ergäben sich ohne Interventionen noch signifikante Todeszahlen, die wir nicht als unabdingbar hinnehmen sollten.