Schlagwort-Archive: zeitkoeffizient

Krisenvergleich (aus dynamischer Perspektive)

Kann man die Corona-Pandemie (CP) und die Klimakrise (KK) vergleichen? In vielerlei Hinsicht wohl nicht, in dynamischer Perspektive aber schon (siehe auch diesen Artikel in Resilience). Bei beiden handelt es sich um globale Herausforderungen, die aber unterschiedliche Zeitkoeffizienten aufweisen (“COVID-19 is climate on warp speed”, Gernot Wagner zitiert auf Yale Environment 360). Für beide gibt es technische, verhaltensbasierte und systemische „Lösungen“, wobei das nicht ein völliges Ausbleiben von negativen Folgen meint (dafür ist es bei beiden zu spät), sondern ein wie auch immer tatsächliches oder empfundenes Im-Griff-haben.

  • Voraussichtliche Dauer: 2 Jahre (CP; nach dieser Zeit ist sehr wahrscheinlich ein Impfstoff gefunden bzw. Herdenimmunität erreicht) — 100 Jahre (KK; die globale Erwärmung ist schon im Gange und selbst bei sofortigen sehr starken Maßnahmen aufgrund langer Verzögerungen nicht aufzuhalten)
  • Bekannt seit: Dez. 2019 (CP; erste Berichte in Presse zu einer neuen Lungenkrankheit in China) — 1992 (KK; Klimarahmenkonvention der UN in Rio, aber eigentlich natürlich schon viel länger, insbesondere die physikalischen Grundlagen)
  • Schätzung Anzahl stark Betroffener: mehrere Tausende/Zehntausende/Hunderttausende (CP; je nach Effektivität der durchgeführten Maßnahmen) — Millionen bis Milliarden (KK; je nach Effektivität der durchgeführten Maßnahmen )
  • Insbesondere betroffene Bevölkerung: Ältere und Menschen mit einschlägigen Vorerkrankungen (CP) — Ärmere Nationen bzw. ärmere Bevölkerungsgruppen in reichen Nationen (KK)
  • Technische Lösungen: Schutzmasken, Impfstoff, Medikamente (CP; ggf. Nebenwirkungen) — Energieeffizienz, CO2-freie Energieerzeugung, Kohlenstofflagerung, Geoengineering (KK; insbesondere bei Letzterem mit unbekannten Nebenwirkungen)
  • Verhaltensbasierte Lösungen: Physische Distanzierung, Händewaschen, kein Händeschütteln, Vermeiden von Menschenansammlungen, Quarantäne (CP) — Konsumverzicht bzw. -veränderung, weniger Fernreisen, weniger Fleischverzehr, bewusste Energieeinsparung (KK)
  • Systemische Lösungen: Infrastruktur zur Kommunikation trotz physischer Distanz, Kapazitäten im Gesundheitswesen aufbauen insbesondere Beatmungsplätze, Heimarbeit ermöglichen (CP) — Umbau des Wirtschaftssystems, mehr Kooperation, mehr Regionalität, nachhaltiges Wirtschaften fördern, weniger Erwerbsarbeit (KK)

Die Systemgrenze bestimmt, was „liberal“ ist

In einer Kolumne auf Spiegel Online erörtert Christian Stöcker (veröffentlicht am 04.08.2019), was momentan als politisch liberale Anschauung gelten kann. Dies geschieht vor dem Hintergrund der Debatte über den Umgang mit der Klimakrise, insbesondere ob und welche Regulierung nötig ist, um diese Krise abzumildern. Als Grundannahme stellt Stöcker dabei voran, dass natürlich auch in liberalen Gesellschaften Gesetze und Regeln notwendig sind, um ein funktionierendes Gemeinwohl zu erhalten–es geht bei der Debatte um gesetzliche Verbote (bspw. von stark CO2-emitierenden Kfz) und politische Lenkung (bspw. „Veggieday“) also um das Ausmaß der Gesetze und Verordnungen.

Soll die Freiheit des heutigen Menschen in Deutschland maximiert werden, dann meint „liberal“ natürlich möglichst wenig solcher Gesetze und Regulierung: der CO2-Ausstoß des eigenen Autos hat momentan und hier in Deutschland (enge Systemgrenze!) wenig bis keine Konsequenzen für den Fahrer, aber auch für alle anderen Bürger dieses Landes; es ist also nicht nötig, die Freiheit des Einzelnen zu beschränken, um andere zu schützen. Zieht man die Systemgrenze aber räumlich und zeitlich weiter, dann erscheint das durchaus sinnvoll: die Klimakrise zeigt bereits erste Auswirkungen in südlichen Ländern und wird dies aller Voraussicht nach in Zukunft noch stärker (und auch in anderen Regionen) tun. Die Beschränkung der Freiheit des Einzelnen ist insofern also notwendig, um die negativen Auswirkungen des Handelns auf andere (jetzt und in Zukunft) zu vermindern.

„Slow Change Is Not No Change“

Trifft natürlich nicht nur für diesen Blog zu 😉

In seinem Buch „Factfulness“ (Flatiron Books, 2018) beschreibt Hans Rosling ab S. 179, dass langsamer Wandel eben nicht keinen Wandel bedeutet–letztendlich und auf längere Sicht können die Auswirkungen enorm sein. Dies wird sehr deutlich bei exponentiellen Wachstumsprozessen (Stichwort: Zinseszins), wie sie mit einer einfachen selbstverstärkenden Rückkopplung erzeugt werden können, siehe folgendes Stock-Flow-Diagramm:

Simuliert man das zugrundeliegende Modell mit einem Anfangsbestand von 1 im Stock, einer Wachstumsrate von 1% pro Monat über 120 Monate (10 Jahre), scheint sich (insbesondere in der graphischen Ansicht) nicht viel zu tun:

Der Bestand wächst von 1 auf ca. 3,3. Wie Rosling schreibt, verdoppelt sich der Ausgangswert nach etwa 70 Monaten.  Verlängert sich der Simulationszeitraum auf 480 Monate (40 Jahre) kommen die Auswirkungen des selbstverstärkenden Prozesses allerdings deutlich zu Geltung:

Der Bestand wächst in diesem Fall von anfänglich 1 auf mehr als 121.