Archiv für den Monat: April 2020

Vier Zitate

Ohne weitere Erläuterung…

„Die Dinosaurier überlebten 250 Millionen Jahre; wie stellen Sie sich ein Wirtschaftswachstum über 250 Millionen Jahre vor? (Stichworte genügen)“
— Max Frisch: Fragebogen (2019, Erstveröffentlichung 1987), Suhrkamp, S. 110

„Auch liebten wir, Gebilde zu erzeugen, die wir Modelle nannten — wir schrieben in leichten Metren drei, vier Sätze auf Zettelchen. In ihnen galt es, einen Splitter vom Mosaik der Welt zu erfassen, so wie man Steine in Metalle fasst. […] Auf diese Weise beschrieben wir die Dinge und die Verwandlungen, vom Sandkorn bis zur Marmorklippe und von der flüchtigen Sekunde bis zur Jahreszeit.“
— Ernst Jünger: Auf den Marmorklippen (2018, Erstveröffentlichung 1939), Ullstein, S. 24

„Die Menschheit kann nur kosmopolitisch überleben. Je ausgelaugter der Planet wird, desto stärker werden die Kräfte der Abgrenzung und Ausgrenzung den exterminatorischen Kampf um die verbliebenen Ressourcen anheizen. Alle zentralen Probleme können nur weltgemeinschaftlich gelöst werden. Der Nationalist des 21. Jahrhunderts ist ein Apokalyptiker.“
— Ilija Trojanov: Nach der Flucht (2017), S. Fischer, S. 110

„Wir leben in einer Gesellschaft, in der Wissen gelehrt und Unwissen praktiziert wird, ja, in der Tag für Tag gelernt wird, wie man systematisch ignorieren kann, was man weiß.“
— Harald Welzer: Alles könnte anders sein (2019), S. Fischer, S. 24

Die Lösung der Koronakrise verlangt systemische Einsicht

Elizabeth Sawin schreibt in einem Kommentar auf USNews, dass COVID-19, Ungleichheit und Klimakrise zusammen betrachtet werden müssen (Why We Can’t Ignore the Link Between COVID-19, Climate Change and Inequity). Ursache und Wirkung der Corona-Krise sind in vielfältigen Rückkopplungsbeziehungen miteinander verwoben, beispielsweise:

Der Wunsch, als Reaktion auf die ökonomischen Folgen von Corona Umweltstandards zu senken oder auszusetzen, ist daher nicht nur von politischen Überlegungen getrieben, sondern führt langfristig auch nicht zu einem erfolgreichen Ergebnis. „Multisolving“ ist gefragt:

Obwohl es natürlich menschlich verständlich und für manche Weltanschauungen auch politisch opportun ist, die COVID-19-Pandemie als einen isolierten Sachverhalt zu betrachten, auf den man sich jetzt alleinig fokussieren sollte, handelt es sich doch um ein komplexes Problem. Solche Probleme haben keine isolierten Lösungen, sondern verlangen eine systemische Analyse und Lösungsansätze, die an verschiedenen Punkten ansetzen.

Scheinkorrelation als rhetorisches Mittel

In einem Mirror-Artikel vom 17.03.2020 wird Jonathan Van-Tam, der stellvertretende Chief Medical Officer von England, zitiert: „I don’t want to go into enormous detail into every single risk group but we are saying it is the people who are offered flu vaccines, other than children, who fit into that risk category, people for whom the advice is very strong about social distancing.“

Als rhetorisches Mittel verwendet er hier eine Scheinkorrelation, um sein Argument zu vereinfachen. Graphisch dargestellt:

Van-Tam argumentiert also mit 3., die bekannten Kausalitäten sind aber 1. und 2.: die bekannten Risikofaktoren führen sowohl dazu, dass man wahrscheinlich eine Grippeimpfung bekommen hat als auch dass die Gefährdung durch COVID-19 höher ist. Statistisch führt das dann tatsächlich zum Auftreten einer Korrelation zwischen Grippeimpfung und Gefährdung (weswegen der Begriff „Scheinkorrelation“ auch missverständlich ist), obwohl kein ursächlicher Zusammenhang besteht.

Das ist natürlich zur Vereinfachung legitim (und er hat es sicher auch richtig verstanden), führte aber prompt zu absichtlichen oder unabsichtlichen Fehlinterpretationen, die eine kausale Verbindung von Grippeimpfung als Ursache der Gefährdung durch COVID-19 impliziert. So lässt schon die Überschrift des Mirror einigen Interpretationsspielraum zu: „Coronavirus: Top medic warns anyone who gets the flu jab should stay at home“. Auf Facebook wird es dann zeitweise richtig falsch: „In England reihen Regierung und höchste Stellen des Gesundheitswesens all jene über 65-Jährigen, die die normale Grippe-Impfung erhalten haben, in die Gruppe der Höchstgefährdeten ein…“ (siehe auch hier).

Welche Konsequenzen ergeben sich aus einer systemischen Sicht auf die Corona-Pandemie?

In einem Blogbeitrag kritisiert Werner Boysen, dass beim Umgang mit der COVID19-Krise eine systemische Sicht häufig fehlt. Während ich seine Grundannahmen teile (und hier kurz noch auf zwei zusätzliche Punkte eingehen will), ergeben sich trotzdem für mich andere Konsequenzen als er andeutet. Doch zunächst zur Zustimmung: Boysen hat sicher recht, wenn er sagt, dass die Corona-Pandemie längst nicht mehr nur ein medizinisches Problem darstellt und folgerichtig auch Lösungen nicht nur im Bereich der Medizin gefunden werden müssen und können; mit anderen Worten, eine systemische Sicht ist notwendig.

Mehr noch, eine rein auf das Medizinische fokussierte Sicht ist m.E. simplifizierend und scheinheilig. Einerseits simplifizierend, da — insbesondere wenn man dynamische Aspekte berücksichtigt — beispielsweise ein völliges Einbrechen der Wirtschaft langfristig auch zu Problemen in der angemessenen medizinischen Versorgung der Bevölkerung führen würde (siehe auch das Interview mit Gerd Antes auf Spiegel Online).

Andererseits ist das scheinheilig, weil eine Abwägung zwischen medizinischem Optimum und anderen Werten natürlich immer schon gemacht wurde (siehe auch diesen Artikel von Wolfgang Mayerhöfer aus der FAZ), sich nur in hoch-entwickelten Gesellschaften mehr und mehr Richtung Gesundheit/Sicherheit verschiebt. Dass die Gesundheit über allem steht, ist aber auch bei uns gar nicht so selbstverständlich, wie es nun dargestellt wird, ansonsten gäbe es ein Tempolimit auf Autobahnen, wären die Kohlekraftwerke abgeschaltet und würden keinerlei Waffen exportiert. Es werden also durchaus medizinische Risiken eingegangen, um andere Ziele zu erreichen — die Auswirkungen liegen oft nur nicht zeitliche und räumlich so nahe, wie jetzt bei der Pandemie.

Trotz dieses Befundes stimme ich nicht mit der implizierten Konsequenz im Boysens Blog überein, die momentanen (02.04.2020) Restriktionen für Gesellschaft und Wirtschaft schnell aufzuheben. Mit diesen Einschränkungen erkaufen wir uns Zeit: 1. um die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Krankeit und ihrer Ausbreitung besser zu erforschen (siehe auch hierzu das oben erwähnte Interview); 2. um Impfstoffe und/oder Medikamente gegen sie zu entwickeln; und 3. um die eben angesprochenen Trade-offs zwischen medizinischem Optimum und anderen gesellschaftlichen Zielen politisch aufzulösen bzw. neu zu priorisieren. Täte man das nicht, besteht die Gefahr von Tausenden von Toten, einer — im Gegensatz bspw. zu einem vorübergehenden Wirtschaftseinbruch — nicht mehr reversiblen Konsequenz. Diese Risikoabwägung im Sinne des General Precautionary Principle (Norman, Bar-Yam und Taleb; siehe auch hier) erscheint mir durchaus geboten. Auch wenn evtl. im Nachhinein die Maßnahmen als übertrieben dargestellt werden (siehe Kassandra-Paradox). Darüber nachzudenken, wie der gegenwärtige Zustand überwunden und was daraus für andere Krisen gelernt werden kann, ist aber gleichermaßen notwendig.