Welche Konsequenzen ergeben sich aus einer systemischen Sicht auf die Corona-Pandemie?

In einem Blogbeitrag kritisiert Werner Boysen, dass beim Umgang mit der COVID19-Krise eine systemische Sicht häufig fehlt. Während ich seine Grundannahmen teile (und hier kurz noch auf zwei zusätzliche Punkte eingehen will), ergeben sich trotzdem für mich andere Konsequenzen als er andeutet. Doch zunächst zur Zustimmung: Boysen hat sicher recht, wenn er sagt, dass die Corona-Pandemie längst nicht mehr nur ein medizinisches Problem darstellt und folgerichtig auch Lösungen nicht nur im Bereich der Medizin gefunden werden müssen und können; mit anderen Worten, eine systemische Sicht ist notwendig.

Mehr noch, eine rein auf das Medizinische fokussierte Sicht ist m.E. simplifizierend und scheinheilig. Einerseits simplifizierend, da — insbesondere wenn man dynamische Aspekte berücksichtigt — beispielsweise ein völliges Einbrechen der Wirtschaft langfristig auch zu Problemen in der angemessenen medizinischen Versorgung der Bevölkerung führen würde (siehe auch das Interview mit Gerd Antes auf Spiegel Online).

Andererseits ist das scheinheilig, weil eine Abwägung zwischen medizinischem Optimum und anderen Werten natürlich immer schon gemacht wurde (siehe auch diesen Artikel von Wolfgang Mayerhöfer aus der FAZ), sich nur in hoch-entwickelten Gesellschaften mehr und mehr Richtung Gesundheit/Sicherheit verschiebt. Dass die Gesundheit über allem steht, ist aber auch bei uns gar nicht so selbstverständlich, wie es nun dargestellt wird, ansonsten gäbe es ein Tempolimit auf Autobahnen, wären die Kohlekraftwerke abgeschaltet und würden keinerlei Waffen exportiert. Es werden also durchaus medizinische Risiken eingegangen, um andere Ziele zu erreichen — die Auswirkungen liegen oft nur nicht zeitliche und räumlich so nahe, wie jetzt bei der Pandemie.

Trotz dieses Befundes stimme ich nicht mit der implizierten Konsequenz im Boysens Blog überein, die momentanen (02.04.2020) Restriktionen für Gesellschaft und Wirtschaft schnell aufzuheben. Mit diesen Einschränkungen erkaufen wir uns Zeit: 1. um die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Krankeit und ihrer Ausbreitung besser zu erforschen (siehe auch hierzu das oben erwähnte Interview); 2. um Impfstoffe und/oder Medikamente gegen sie zu entwickeln; und 3. um die eben angesprochenen Trade-offs zwischen medizinischem Optimum und anderen gesellschaftlichen Zielen politisch aufzulösen bzw. neu zu priorisieren. Täte man das nicht, besteht die Gefahr von Tausenden von Toten, einer — im Gegensatz bspw. zu einem vorübergehenden Wirtschaftseinbruch — nicht mehr reversiblen Konsequenz. Diese Risikoabwägung im Sinne des General Precautionary Principle (Norman, Bar-Yam und Taleb; siehe auch hier) erscheint mir durchaus geboten. Auch wenn evtl. im Nachhinein die Maßnahmen als übertrieben dargestellt werden (siehe Kassandra-Paradox). Darüber nachzudenken, wie der gegenwärtige Zustand überwunden und was daraus für andere Krisen gelernt werden kann, ist aber gleichermaßen notwendig.

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