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Scheinkorrelation als rhetorisches Mittel

In einem Mirror-Artikel vom 17.03.2020 wird Jonathan Van-Tam, der stellvertretende Chief Medical Officer von England, zitiert: „I don’t want to go into enormous detail into every single risk group but we are saying it is the people who are offered flu vaccines, other than children, who fit into that risk category, people for whom the advice is very strong about social distancing.“

Als rhetorisches Mittel verwendet er hier eine Scheinkorrelation, um sein Argument zu vereinfachen. Graphisch dargestellt:

Van-Tam argumentiert also mit 3., die bekannten Kausalitäten sind aber 1. und 2.: die bekannten Risikofaktoren führen sowohl dazu, dass man wahrscheinlich eine Grippeimpfung bekommen hat als auch dass die Gefährdung durch COVID-19 höher ist. Statistisch führt das dann tatsächlich zum Auftreten einer Korrelation zwischen Grippeimpfung und Gefährdung (weswegen der Begriff „Scheinkorrelation“ auch missverständlich ist), obwohl kein ursächlicher Zusammenhang besteht.

Das ist natürlich zur Vereinfachung legitim (und er hat es sicher auch richtig verstanden), führte aber prompt zu absichtlichen oder unabsichtlichen Fehlinterpretationen, die eine kausale Verbindung von Grippeimpfung als Ursache der Gefährdung durch COVID-19 impliziert. So lässt schon die Überschrift des Mirror einigen Interpretationsspielraum zu: „Coronavirus: Top medic warns anyone who gets the flu jab should stay at home“. Auf Facebook wird es dann zeitweise richtig falsch: „In England reihen Regierung und höchste Stellen des Gesundheitswesens all jene über 65-Jährigen, die die normale Grippe-Impfung erhalten haben, in die Gruppe der Höchstgefährdeten ein…“ (siehe auch hier).

„Einfachdenken“ vs. „besseres Wissen“

Der Soziologe Georg Vobruba beschreibt in seinem Buch „Die Kritik der Leute“ (Beltz, 2019) wie die Reduktion von Kausalität auf eine Ursache (die Intention/Absicht eines oder mehrerer handelnder Subjekte) zu vereinfachter Zuschreibung von Ursache und Wirkung führt. Als Kausalitätendiagramm ausgedrückt, sieht das dann in etwa so aus:

Als Ursache und Auslöser eines bestimmten Phänomens in der Wirklichkeit wird also immer und alleine der Wille einer Person oder einer Personengruppe angenommen (krasses Beispiel: „Flüchtlinge kommen nach Deutschland, weil die Bundeskanzlerin das deutsche Volk auslöschen will“).

Im Gegensatz dazu steht das von Vobruba so genannte „bessere Wissen“, das in abstrakter Weise so Phänomene erklärt:

Es gibt in halbwegs komplexen (sozialen) Systemen also in der Regel mehrere Ursachen für ein Phänomen, wobei die Absicht eines oder mehrerer Subjekte eben nur eine unter vielen solchen Ursachen darstellt. Diese Ursachen hängen teilweise auch voneinander ab und können gar–bspw. mit dem Effekt als Zwischenschritt–Rückkopplungschleifen bilden (wobei diese letzte Aussage meine Ergänzung zu Vobrubas Ausführungen darstellt).

Die Kausalitätsleiter

In „The Book of Why“ (Basic Books, 2018) stellt Judea Pearl die Kausalitätenleiter vor (S. 28). Pearl, ein führender Experte künstlicher Intelligenz, beschreibt damit, dass es drei Stufen von Fragestellungen gibt, die intelligente Wesen beantworten können (sollten).

Die erste Stufe beantwortet Fragen des Zusammenhangs zwischen zwei Variablen. Auf der zweiten Stufe geht es darum herauszufinden, was bei einer bestimmten Intervention im System passieren wird, d.h. wenn eine der zwei Variablen einen Wert zugewiesen bekommt, was passiert dann mit der anderen. Stufe 3 fragt, was passiert wäre, hätte eine der Variablen in der Vergangenheit einen bestimmten Wert angenommen.

Antworten auf Stufe 1 werden typischer Weise auf Grundlage von Beobachtungen und darauf angewandter statistischer Analysen gefunden; „big data“ ist hier das Schlagwort. Der Königsweg zur Beantwortung von Fragen auf Stufe 2 sind randomisierte Experimente, die allerdings nicht immer möglich oder ethisch sind. In diesem Fall und für die Stufe 3 gilt, dass sie mittels Statistik nicht zufriedenstellend adressiert werden können, da zur Beantwortung solcher Fragen kausale Hypothesen notwendig sind, auf deren Basis die vorhandenen Daten interpretiert werden müssen.

Pearl sagt, dass Tiere und Computer nur auf Stufe 1 agieren. Urmenschen und kleine Kinder bereits auf Stufe 2, und heutige Erwachsene auf Stufe 3.  Damit künstliche Intelligenz wirklich intelligent wird, reiche die Datenanalyse nicht aus, sondern müsse durch ein Kausalmodell ergänzt werden. Solche Kausalmodelle repräsentiert Pearl durch die uns bekannten Kausalitätendiagramme!