Nach einer Meldung in Spiegel.Online vom 09. August 2020 klagen mehrere Lieferanten von Schutzmasken gegen das Bundes-Gesundheitsministerium, da dieses Zahlungsverpflichtungen nicht oder nur zögerlich nachkomme. Im letzten Abschnitt des Artikels wird gemutmaßt, warum dies so sei: da zwischenzeitlich viel zu viele Masken bestellt worden seien und dieser Fehler auf die Lieferanten abgewälzt werden solle (siehe auch eine frühere Meldung).
Falls dies so ist, ist das ein gutes Beispiel für ein Phänomen, das man Untergewichtung der Lieferkette nennt (englisch: underweighting of supply chain). Basierend auf dem Beer Distribution Game wurde eine solches Entscheidungsverhalten bei der Bestellung von (fiktiven) Bierkästen von Sterman bereits 1989 beschrieben: die Entscheider berücksichtigen bei ihrer aktuellen Bestellung nicht, was sie bereits in Perioden zuvor bestellt haben, was aber — aufgrund von Lieferverzögerungen — noch nicht eingetroffen ist; aber irgendwann treffen alle Bestellungen dann doch ein… das hat natürlich zur Folge, dass die Lagerbestände in die Höhe schießen (und das Bestellverhalten häufig ins Gegenteil schlägt, nämlich das zu lange nichts oder zu wenig bestellt wird). Die Untergewichtung der Lieferkette ist eine Ursache für den sogenannten Bullwhip- oder Peitscheneffekt in Supply Chains.
Wie bei der Studie von Sterman fragt man sich aber auch jetzt, was wiederum Treiber für diese Untergewichtung sind. Einerseits handelt es sich tatsächlich um eine kognitive Fehlentscheidung, die allerdings so offensichtlich ist, dass sie wohl nur unter bestimmten Voraussetzungen eintritt. Mit anderen Worten, die Spieler des Beer Distribution Game als auch die Besteller im Ministerium sind ja nicht einfach zu doof: sie wissen eigentlich schon, dass sie in der Vergangenheit bereits Bestellungen getätigt haben und ein Stift mit einem Blatt Papier reicht aus, um über die genauen Mengen Buch zu führen.
Es müssen also wohl noch kontextuelle und organisationale Rahmenbedingungen erfüllt sein, damit die Untergewichtung der Lieferkette stattfindet und dann in einen Bullwhip-Effekt mündet:
- Zeitdruck beim Entscheiden
- keine Abstimmung zwischen Abteilungen
- politischer Druck, irgendetwas tun zu müssen
- kein konsolidiertes Informationssystem
- Risikoaversion: wer wird schon dafür kritisiert, energisch gehandelt zu haben