Tragik der Gutachter-Allmende

Die Herausgeber der Fachzeitschrift Ecology Letters (Michael E. Hochberg, Jonathan M. Chase, Nicholas J. Gotelli, Alan Hastings und Shahid Naeem) beschreiben 2009 (12. Jahrgang, S. 2-4) die Situation bei der Begutachtung von Fachartikeln als typisches Problem der Form „Tragik der Allmende“ (engl.: tragedy of the commons).

Das gegenwärtige Anreizsystem in der Wissenschaft führe dazu, dass immer mehr Zeit zum Publizieren von Artikeln aufgewendet würde (inkl. forschen, schreiben, revidieren, neu einreichen etc.) gegenüber der Erstellung von Gutachten für von Kollegen eingereichte Artikel. Gleichzeitig bewirke dies aber auch, dass die insgesamt im System vorhandene Kapazität zur Erstellung von Gutachten abnimmt, wodurch die Verzögerung von Gutachten zu und ihre Qualität abnimmt. Wissenschaftler müssten also individuell noch mehr Zeit zum Publizieren aufbringen, um den Anforderungen zu genügen. Dies beeinträchtigt sowohl ihre Möglichkeit zur Erstellung von Gutachten als auch wiederum die Gesamtkapazität des Systems.

Das folgende Kausalitätendiagramm fasst aus meiner Sicht diese Gedanken in einer „Limits-to-Growth“-Struktur zusammen. Stellt man sich mehrere individuelle Forscher im Diagramm abgebildet vor, konkurieren diese um eine gemeinsame Ressource, die Reviewer Allmende, und es ergibt sich der klassische „Tragedy-of-the-Commons“-Systemarchetyp nach Senge (1990; The Fifth Discipline):

Die Kausalitätsleiter

In „The Book of Why“ (Basic Books, 2018) stellt Judea Pearl die Kausalitätenleiter vor (S. 28). Pearl, ein führender Experte künstlicher Intelligenz, beschreibt damit, dass es drei Stufen von Fragestellungen gibt, die intelligente Wesen beantworten können (sollten).

Die erste Stufe beantwortet Fragen des Zusammenhangs zwischen zwei Variablen. Auf der zweiten Stufe geht es darum herauszufinden, was bei einer bestimmten Intervention im System passieren wird, d.h. wenn eine der zwei Variablen einen Wert zugewiesen bekommt, was passiert dann mit der anderen. Stufe 3 fragt, was passiert wäre, hätte eine der Variablen in der Vergangenheit einen bestimmten Wert angenommen.

Antworten auf Stufe 1 werden typischer Weise auf Grundlage von Beobachtungen und darauf angewandter statistischer Analysen gefunden; „big data“ ist hier das Schlagwort. Der Königsweg zur Beantwortung von Fragen auf Stufe 2 sind randomisierte Experimente, die allerdings nicht immer möglich oder ethisch sind. In diesem Fall und für die Stufe 3 gilt, dass sie mittels Statistik nicht zufriedenstellend adressiert werden können, da zur Beantwortung solcher Fragen kausale Hypothesen notwendig sind, auf deren Basis die vorhandenen Daten interpretiert werden müssen.

Pearl sagt, dass Tiere und Computer nur auf Stufe 1 agieren. Urmenschen und kleine Kinder bereits auf Stufe 2, und heutige Erwachsene auf Stufe 3.  Damit künstliche Intelligenz wirklich intelligent wird, reiche die Datenanalyse nicht aus, sondern müsse durch ein Kausalmodell ergänzt werden. Solche Kausalmodelle repräsentiert Pearl durch die uns bekannten Kausalitätendiagramme!

Krankenkassen: Todesspirale Verringerung der Zusatzbeiträge

Basierend auf einem Plan von Gesundheitsminister Spahn, Krankenkassen mit hohem Finanzreserven zu zwingen, diese abzubauen, indem sie ihre Zusatzbeiträge verringern, spricht der Gesundheitsökonom Georg Wasem von einer Todesspirale für „schwache“ Krankenkassen, die dadurch ausgelöst werden könne (Spiegel Online vom 30.04.2018). Die Bürger würden nämlich vermehrt zu den Krankenkassen wechseln, die niedrige Zusatzbeiträge anbieten und die Not der schwachen Kassen dadurch verstärken.

Das Kausalitätendiagramm der Situation sieht so aus:

Zunächst ist anzumerken, dass der Mechanismus pro Krankenkassen wirksam wird, d.h. wir könnten auch ein separates Diagramm für jede Kasse erstellen. Vom Minister intendiert ist die Wirkung des balancierenden (negativen) Feedbackloops bei finanzstarken Kassen: durch die Verringerung der Zusatzbeiträge werden deren Finanzreserven vermindert. Auf finanzschwache Kassen soll kein Druck ausgeübt werden.

Indirekt entsteht ein solcher aber doch: wenn sich Krankenkassenkunden aufgrund der (geringen) Höhe des Zusatzbeitrags entscheiden zu einer starken Kasse zu wechseln, schwächen sie ihre ehemalige Krankenkasse zusätzlich; deren Finanzreserven werden noch weiter geschwächt.

Der selbstverstärkende Loop verhält sich also bei starken Kassen als virtuous cycle und stärkt diese noch zusätzlich. Bei schwachen Kassen entsteht aber ein vicious cycle (auch Teufelskreis oder eben „Todesspirale“ genannt): die Lage wird kontinuierlich schlechter. Ein (vermutlich) nicht-intendierter Nebeneffekt der politischen Entscheidung.

 

Zwei Arten von Infektionskrankheiten

In „Pale Rider“ (Jonathan Cape, 2017) beschreibt Laura Spinney die Entstehung, den Verlauf und die Auswirkungen der Spanischen Grippe im Jahr 1918 als größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts. U.a. unterscheidet sie zwei Arten von Infektionskrankheiten bei Menschen (S. 16f.): solche, die Einzelfälle betreffen (z.B. Lepra und Malaria), und solche, die sich zu Epidemien ausbreiten und erst bei einer bestimmten Dichte an Menschen erst möglich werden („crowd diseases“; z.B. Masern, Mumps, und eben Grippe). Die „Einzelfall-Krankheiten“ gab es auch unter Jägern und Sammlern; die Massenkrankheiten wurden erst durch die landwirtschaftliche Revolution ermöglicht, durch die erstmals eine große Zahl von Menschen auf relativ kleinem Raum leben konnte.

Das Flussdiagramm von Non-Crowd-Diseases stelle ich mir so vor:

Das Stock-Flow-Diagramm von Crowd-Diseases dagegen so:

Natürlich habe ich dabei einige Vereinfachungen vorgenommen, so sterben beispielsweise in der Realität eben auch nicht-infizierte Personen.

Spinney erklärt dann noch, dass Viren sich von einem zum anderen „Vorgehensmodell“ entwickeln können, was auch damit zu tun hat, ob sie nur für Tiere, nur für den Menschen oder für beide schädlich sind. Erhellend in diesem Zusammenhang ihre Aussage (S. 17): „But we shouldn’t think of this process as fixed. It’s highly dynamic, as illustrated by Ebola.“

Das Amazon Schwungrad…

Der ehemalige Amazon-Manager John Rossman beschreibt in seinem Buch „The Amazon Way on IT“ (Clyde Hill, 2016) das grundsätzliche Geschäftsmodell von Amazon als einen Schwungrad-Mechanismus („flywheel model“). Im Buch (S. 123) sieht die Abbildung in etwa so aus:

Natürlich handelt es sich um die Idee einer selbstverstärkenden Rückkopplungsschleife: Wachstum erlaubt Investitionen, die zu niedrigeren Preisen führen, die mehr Kunden und Verkäufer anziehen (auch aufgrund des großen Angebots), und wieder zu Wachstum führen. Rossman benutzt sogar die Begriffe „systems dynamics“ (S. 121) und „systems-dynamic“ (S. 123), um die dahinter stehende Denkweise zu beschreiben.

Allerdings folgt seine Abbildung nicht den bewähren Standards für Kausaldiagramme, weswegen ich hier eine „normgerechte“ Ausführung aufzeige:

Die selbstverstärkenden (positiven) Rückkopplungen kommen so besser zur Geltung. Außerdem habe ich einige weitere Variablen eingefügt, die die angenommenen Kausalverbindungen erklären können. „Wachstum“ ist jetzt keine Variable mehr, sondern ein sich durch die Struktur ergebendes mögliches Verhalten des Systems. Die Variablennamen sind neutral gehalten–was auch insofern sinnvoll ist, da Wachstum eben nicht das einzig mögliche Verhaltensmuster von selbstverstärkenden Rückkopplungen darstellt: das System könnte auch immer mehr schrumpfen (worüber Amazon aber lieber nicht nachdenken will) und wird sicher auch irgendwann an seine Grenzen stoßen.

„Monopoly Endgame“

Unter diese Überschrift stellt Thom Hartmann ein Kapitel in seinem Buch „The Chrash of 2016“ (Hachette, 2013, S. 72ff.). Darin beschreibt er ein simples Gedankenexperiment: wenn im Spiel Monopoly ein Spieler gewinnt, bedeutet das, dass alle anderen ausscheiden und der Gewinner eben ein Monopol inne hat (d.h. er/sie besitzt alle Straßen). Die scheinbar einfache Frage die Hartmann stellt, ist die: was passiert eigentlich danach bzw. was würde in der Realität in einer solchen Situation passieren? Wer (und von welchem Einkommen) soll die Mieten des Monopolisten zahlen?

Dies ist Systemdenken in Reinkultur. Das System hört eben nicht auf zu existieren, nur weil eine extreme (ökonomische) Situation entstanden ist. Wie kann es sich nachhaltig weiterentwickeln? Ist es nicht auch im Sinne des Gewinners, wenn er nicht vollständig siegt, d.h. kein absolutes Monopol entsteht…

PS: Der Crash fand (wie wir jetzt wissen) 2016 nicht statt und bisher auch nicht seitdem. Hartmann schreibt aber deutlich, dass er sich gar nicht wirklich auf eine Jahreszahl festlegen will (das war wohl eher dem Marketing des Verlags geschuldet), sondern es ihm um die grundsätzlichen Strukturen im Wirtschaftssystem geht. Er will also verstehen, wie  Systemstruktur Verhalten erzeugt, nicht eine Punktvorhersage treffen (die gleiche Idee findet sich bei System Dynamics). Auf diesem Verständnis basiert Hartmann die Argumentation, dass ein nächster Crash bei unveränderter Systemstruktur eben unvermeidlich ist (egal wann das genau passiert).

Spirale der Selbstrechtfertigung

In ihrem Buch „Mistakes Were Made (but not by me)“ (Harcourt, 2007) beschreiben Carol Travis und Elliot Aronson, dass die klassische Sichtweise, dass unser Verhalten von unseren Gedanken und Gefühlen gesteuert seien, falsch ist. Stattdessen argumentieren sie für eine rückkopplungsorientierte Sichtweise. In etwa so:

Unser Verhalten bestimmt also genauso, was wir denken und fühlen, wie anders herum. Unter anderem führen die Autoren dafür mehrere Beispiele von Zeugenaussagen an. Falls wir uns sehr sicher sind, umso mehr weisen unsere Aussagen eine Festlegung in eine bestimmte Richtung auf; je eindeutiger eine Sichtweise vertreten wird, umso sicherer werden wir. Eine selbstverstärkende Rückkopplung:

Ein Teufelskreis, wie er ähnlich auch in den Konzepten „Escalation of commitment“ (Staw), „Path dependeny“ (Arthur), „Boiling Frog metaphor“ (Gore) und „Group Think“ (Janis) zu finden ist. Da es sich um eine tief-verwurzelten psychologischen Mechanismus handelt, ist Abhilfe schwierig. Doch gilt auch hier, wie immer, dass selbstverstärkende Schleifen nicht unendlich wachsen können („Limits to Growth“). Daher können abweichende Fakten und Aussagen uns, wenn auch nur langsam und mit Widerwillen, zum Umdenken bringen:

 

Single- und Double-Loop-Learning in der Fertigungsstrategie

In ihrem Standardwerk zur Fertigungsstrategie (Operations Strategy, 5. Auflage, Pearson, 2017) diskutieren Nigel Slack und Michael Lewis auf den S. 358ff., wie Single und Double-Loop-Learning in einem fertigungsstrategischen Kontext verstanden werden kann. Sie verwenden dazu zwei Abbildungen, die dem ersten Anschein nach Kausaldiagramme darstellen, tatsächlich aber eher Prozessabläufe klarmachen (welcher Schritt folgt nach welchem anderen?).

Ein Kausaldiagramm des Single-Loop-Learning in der Fertigungsstrategie stelle ich mir eher so vor (mit einigen Erläuterungen, in Englisch):

Die balancierende Rückkopplung erlaubt, die innerbetriebliche Wertschöpfungsaktivitäten effizient an geänderte Ziele (die wiederum häufig von den externen Ansprüchen abhängen) anzupassen (d.h. sie macht etwas richtig). Das Kausaldiagramm zum Double-Loop-Learning bindet dann diese Zielanpassung in die Überlegungen mit ein. Erst dadurch wird die Wertschöpfung effektiv (d.h. macht das Richtige):

„Slow Change Is Not No Change“

Trifft natürlich nicht nur für diesen Blog zu 😉

In seinem Buch „Factfulness“ (Flatiron Books, 2018) beschreibt Hans Rosling ab S. 179, dass langsamer Wandel eben nicht keinen Wandel bedeutet–letztendlich und auf längere Sicht können die Auswirkungen enorm sein. Dies wird sehr deutlich bei exponentiellen Wachstumsprozessen (Stichwort: Zinseszins), wie sie mit einer einfachen selbstverstärkenden Rückkopplung erzeugt werden können, siehe folgendes Stock-Flow-Diagramm:

Simuliert man das zugrundeliegende Modell mit einem Anfangsbestand von 1 im Stock, einer Wachstumsrate von 1% pro Monat über 120 Monate (10 Jahre), scheint sich (insbesondere in der graphischen Ansicht) nicht viel zu tun:

Der Bestand wächst von 1 auf ca. 3,3. Wie Rosling schreibt, verdoppelt sich der Ausgangswert nach etwa 70 Monaten.  Verlängert sich der Simulationszeitraum auf 480 Monate (40 Jahre) kommen die Auswirkungen des selbstverstärkenden Prozesses allerdings deutlich zu Geltung:

Der Bestand wächst in diesem Fall von anfänglich 1 auf mehr als 121.

Griechenlandkrise — eine (extreme vereinfachte) systemische Sicht

Am Abend des 27. Junis 2015 eskaliert die „Schuldenkrise“ in der Euro-Zone um  Griechenland. Aus meiner Sicht gibt es zwei grundsätzliche Lösungsmöglichkeiten, die entweder dem Primat der Ökomomie oder der Politik folgen. In systemischer Perspektive etwa so: was ist das Supersystem, was das Subsystem?

Griechenland

Daraus ergeben sich direkt zwei prinzipielle Lösungsmöglichkeiten.

1. Primat der Ökonomie: Griechenland kann nicht mehr zahlen und wird es auch nie ganz schaffen, also ein Schuldenschnitt, um wenigstens einen Teil des Geldes zu retten. Außerdem kann ein Austritt aus dem Euro die Wettbewerbsfähigkeit Griechenlands erhöhen.

2. Primat der Politik: Griechenland kann nicht mehr zahlen und wird es auch nie ganz schaffen, aber aus politischen Gründen soll Griechenland im Euro gehalten werden, was nur mittels einer extremen Stundung der Kredite (die quasi einem Ausfall entspricht) erreichbar ist.

Beide Möglichkeiten kosten Geld. Da uns die Politiker diese Wahrheit aber nicht zumuten wollen, favorisieren sie eine Nicht-Lösung: ein vermeintliches hartes Sparen soll Griechenland in die Lage versetzen, selbst alle seine Schulden zurückzuzahlen…